Kaltes Blut
Tochter gesund wiederbekommen. Wir denken an Sie.«
»Danke, vielen Dank«, entgegnete Helga Kautz und reichte den beiden die Hand. Sie hatte Tränen in den Augen. »Es war sehr nett, dass Sie vorbeigekommen sind.«
»Keine Ursache. Ich wünschte nur, dass wir mehr für Sie tun könnten.«
»Die Polizei wird sich jetzt um alles kümmern.«
»Wir werden Sie in unsere Gebete mit einschließen«, sagte Frau Schreiner mit einem freundlichen Lächeln. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht und nochmals vielen Dank.«
Sie schloss die Tür hinter sich und ging zurück ins Wohnzimmer, stellte sich ans Fenster und blickte hinaus in den Garten, der in voller Blüte stand. Mit einer Hand wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Selina wird nicht mehr zurückkommen«, sagte sie unvermittelt in einem Ton, der für einen Moment vollkommene Stille eintreten ließ. »Ich weiß, dass Selina uns entrissen wurde.«
»Helga, bitte, mal jetzt nicht gleich den Teufel an die Wand«, sagte ihr Mann, sprang auf und stellte sich neben sie, fasste sie an der Schulter und drehte sie zu sich. Er sah ihr in die Augen, und sie erwiderte seinen Blick. »Wir wissen doch noch überhaupt nichts! Hörst du, gar nichts wissen wir …!«
Ihre Stimme war fest und bestimmt, als sie entgegnete: »Ich weiß es aber.«
»Und woher, verdammt noch mal, willst du es wissen?!«, schrie er sie mit vor Ohnmacht und Wut rotem Gesicht an und schüttelte sie mit beiden Händen. »Woher willst du das wissen?!«
»Ich weiß es, wie nur eine Mutter etwas wissen kann«, erwiderte sie ruhig und entwand sich seinem Griff. »So etwas wirst du nie verstehen, weil du keine Mutter bist. Selina hätte uns niemals in ihrem ganzen Leben solche Sorgen bereitet. Es ist nicht nur ein Gefühl, Peter. Ich habe es eigentlich schon heute Vormittag gewusst, doch ich habe es unterdrückt, weil ich mir etwas eingeredet habe. Aber mein Bauch hat eine andere Sprache gesprochen, auf die ich nicht hören wollte; ich habe sogar dagegen angekämpft, aber die Stimme hat nicht aufgehört. Selina kommt nicht mehr zurück, wir müssen uns mit diesem Gedanken vertraut machen. Irgendwer hat ihr etwas Schlimmes angetan.«
Julia Durant und Frank Hellmer beobachteten die beiden, das Gesicht der Frau, die mit einem Mal so ruhig und gefasst wirkte, während ihr Mann sie entsetzt anstarrte, als wäre sie ein Gespenst. Er ist völlig überfordert mit der Situation, dachte Durant nur.
»Helga, bitte, sprich nicht so. Die Polizei wird alles nur erdenklich Mögliche tun …«
»Die Polizei kann Selina nicht mehr helfen. Sie können sie nur suchen und vielleicht werden sie sie irgendwann finden. Glaub mir, ich wünsche mir nichts mehr, als Selina lebend wiederzusehen, doch dieser Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.«
»Frau Kautz«, sagte Durant, die aufgestanden war und etwa einen Meter vor ihr stehen blieb, »was macht Sie da so sicher?«
»Ich hatte einen Traum, den ich anfangs nicht ernst nahm. Aber ich habe ihn nicht vergessen, weil er so eindringlich war. Ich habe ihn einfach verdrängt, wie man so vieles verdrängt, was unangenehm ist. Dabei war er eine Warnung. Es war in der Nacht, bevor Selina aus Frankreich zurückkam. Ich bin davon aufgewacht und konnte auch nicht mehr einschlafen. Hätte ich die Warnung ernstgenommen … Ach was, ich hätte ja doch nicht verhindern können, was geschehen ist.«
»Möchten Sie uns von dem Traum erzählen?«, fragte Julia Durant, die selbst schon des Öfteren Träume hatte, von denen sie genau wusste, dass sie eine Bedeutung hatten. Keine Träume, die auf den Alltag oder auf Stress zurückzuführen waren, oder schlichte Albträume. Sie kannte diese Art von Träumen und hatte gelernt, zu unterscheiden zwischen wichtig und unwichtig. Und deshalb glaubte sie, was Helga Kautz erzählte.
»Nein, ein andermal vielleicht. Jetzt nicht. Ich muss auch nach oben gehen und schauen, ob Elias schon schläft. Und dann werde ich versuchen, ein wenig zu schlafen, auch wenn ich kaum glaube, dass es mir gelingen wird. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.«
»Was hat Selina in Frankreich gemacht?«
»Sie war mit dem Reitclub dort. Nur für zehn Tage. Dieses Jahr musste der Urlaub bei uns leider ausfallen, da mein Mann ein wichtiges Projekt hat. Da kam Frankreich gerade recht.«
»Hat sie sich vielleicht nach der Frankreichfahrt irgendwie merkwürdig verhalten?«
»Nein, sie war wie immer. Ich möchte jetzt aber wirklich nach oben gehen und mich um die
Weitere Kostenlose Bücher