Kaltes Blut
war. Etwas in ihr sträubte sich gegen eine Bindung, was es war, vermochte sie nicht genau zu definieren, aber auch die jetzige Beziehung zu Kuhn war ihrer Meinung nach nicht für die Dauer bestimmt, nein, der Zeitpunkt, an dem sich ihre Wege trennen würden, war vorprogrammiert. Anfangs hatten sie sich ganz gut verstanden, doch dieses Anfangs lag mittlerweile mehr als zwei Jahre zurück, und sie bemerkte immer häufiger, wie sie Fehler bei Kuhn suchte und dabei tief in sich wusste, dass die eigentliche Ursache ihre Bindungsunfähigkeit war. Sie hatte gerade in den letzten relativ ruhigen Wochen des Öfteren über sich nachgedacht, sie hatte lange Telefonate mit ihrem Vater geführt und war erst vor kurzem für ein verlängertes Wochenende zu ihm gefahren, um mit ihm zu sprechen und ihm einmal mehr ihre Gefühle und Probleme anzuvertrauen, auch wenn ihr klar war, dass er sie besser kannte als sie sich selbst, denn er durchschaute Menschen wie kaum ein anderer. Er war ein sehr intuitiver Mann, einer, der sein Leben der Liebe zu Gott und den Menschen verschrieben hatte, und die Intuition, das Bauchgefühl, das ihr so oft schon in kniffligen Fällen geholfen hatte, war ihr, so ihre Überzeugung, von ihrem Vater vererbt worden. Dinge zu spüren und zusehen, die andere gar nicht wahrnahmen, einen Menschen im Bruchteil einer Sekunde einzuschätzen, zu wissen, wie sie mit einer ihr fremden Person umzugehen hatte. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass dies eine Gabe sei, die nur wenige zu nutzen wüssten, dass die meisten heutzutage alles nur noch mit dem Kopf analysieren wollten. Und sie solle bloß nie aufhören, auf ihren Bauch, ihre innere Stimme zu hören. Und als sie ihm von ihren Problemen mit Kuhn erzählte und das Gespräch letztlich auf ihre scheinbare Bindungsunfähigkeit hinauslief, sagte er ein paar weise Worte. Er sagte, es gebe keine Menschen, die bindungsunfähig seien, es gebe nur Menschen, die Angst vor einer Bindung hätten. Aber sie solle selbst herausfinden, weshalb und wovor sie Angst habe. Ehe sie wieder nach Frankfurt zurückfuhr, versprach sie ihm, darüber nachzudenken. Sie hatte es versucht, es war bei einigen kläglichen Versuchen geblieben. Aber sie hatte einen Entschluss gefasst, nämlich sich allmählich von Kuhn zu lösen. Und vielleicht traf sie ja doch irgendwann einen Mann, bei dem sie sich einfach fallen lassen konnte, der es in Kauf nahm, wenn sie Bereitschaft hatte oder durch die vielen Überstunden einfach müde war und nichts wollte, als nur in seinem Arm einzuschlafen. Er musste kein Beau sein, auch nicht vermögend, sie hatte gelernt, ihre Ansprüche zu reduzieren, aber es sollte jemand sein, mit dem sie sich auch ohne viele Worte einfach gut verstand. Ein Mann zum Anlehnen, zum Lachen und zum Weinen, wenn ihr danach zumute war, und ein Mann, der akzeptierte, dass sie ihren Beruf bewusst gewählt hatte und ihn auch nie aufgeben würde.
Durant und Hellmer blieben einen Moment auf dem Bürgersteig vor dem Haus stehen. Hellmer zündete sich eine Zigarette an. Die meisten Personen, die noch vor anderthalb Stunden die Straße bevölkert hatten, waren wieder in ihren Rattenlöchern verschwunden. Die Sonne sandte die letzten nun roten Strahlen aus, noch wenige Minuten bis zum Einsetzen der Dämmerung, aber noch mindestens eine Stunde, bis Dunkelheit sich über den Ort gelegt haben würde.
»Und jetzt?«, fragte Hellmer.
»Zeig mir doch mal den Spielplatz, oder musst du dringend nach Hause?«
»Quatsch. Ist ja nur zwei Minuten von hier.«
Einen Moment lang liefen sie schweigend nebeneinander her, bis Hellmer fragte: »Und, was hältst du von den Eltern?«
»Was soll ich von ihnen halten?«, fragte Durant schulterzuckend zurück. »Sie sind relativ normal, ich meine, sie wirken nicht abgehoben. Zurückhaltend, liberal eingestellt, offen. Was willst du von mir hören?«
»Einfach deinen Eindruck. Du hast also nicht das Gefühl, dass sie uns irgendwas verheimlichen?«
»Nee. Und wenn, dann unbewusst. In einer Situation wie dieser fällt einem nicht gleich alles ein. Aber sie haben doch sehr deutliche Aussagen gemacht, was ihre Tochter angeht. Und das Zimmer von Selina unterstreicht das eigentlich nur.«
»Und was denkst du, was mit dem Mädchen passiert ist?«
»Bin ich eine Hellseherin? Mein Gott, wie gesagt, es könnte alles Mögliche passiert sein …«
»Ach komm, du weißt doch genau, dass dieses alles Mögliche nicht in Frage kommt. Also, was ist deine Vermutung?«
»Frank, ich
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