Kaltes Blut
stieg Wut hoch wegen der Sensationsgier. Am liebsten hätte er ihnen ins Gesicht geschrien, sie sollten sich zum Teufel scheren und sich um ihre eigenen Sachen kümmern, wie sie es auch sonst immer taten.
»Das ist natürlich etwas anderes«, sagte er mit einem Mal freundlich, machte das Tor auf und bat sie ins Haus.
»Das sind zwei Beamte von der Kriminalpolizei.« Er deutete auf Durant und Hellmer. »Herrn Hellmer kennen Sie vielleicht, er wohnt hier in der Straße.« Und zu den Kommissaren: »Herr und Frau Schreiner. Sie sagen, sie haben Selina gestern Abend nach halb elf gesehen.«
»Wirklich?«, fragte Helga Kautz erregt und sprang auf. »Wo?«
»Wir waren mit unserem Hund spazieren und …«
»Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Wir wollten doch nur sagen, dass …«
»Setzen Sie sich bitte einen Moment zu uns und erzählen Sie, was Sie gesehen haben«, sagte Julia Durant freundlich, aber bestimmt.
Sie zögerten zunächst, folgten schließlich aber doch der Aufforderung.
»Sie haben Selina also gestern Abend nach halb elf gesehen. Können Sie sich erinnern, wann genau das war?«
»Kurz nach halb elf. Mein Mann und ich haben uns einen Film angeschaut, der bis genau Viertel nach zehn ging. Danach haben wir uns angezogen, den Hund angeleint und sind aus dem Haus gegangen. Und das war mit Sicherheit nicht vor halb elf. Ja, und dann haben wir unsere übliche Runde gedreht und dabei Selina gesehen. Sie hat allein auf einer Bank gesessen«, sagte Frau Schreiner, eine im Gegensatz zu ihrem Mann offene, wenn auch distinguierte Frau etwa Anfang sechzig, wie Julia Durant vermutete, auch wenn ihr sehr gepflegtes Äußeres sie auf den ersten Blick jünger erscheinen ließ. Doch die Falten am Hals und die Altersflecken auf den Händen verrieten, dass sie entweder eine exzellente Kosmetikerin hatte oder das Jugendliche einfach in ihren Genen lag. Frau Schreiner war diejenige, die sprach, während ihr Mann recht unscheinbar neben ihr saß und das Ganze ihm offensichtlich eher unangenehm war.
»Und es war niemand sonst da?«
»Nein, sie war ganz allein. Wir haben uns kurz gegrüßt und sind weitergegangen.«
»Und Sie sind denselben Weg wieder zurückgegangen?«
»Nein, nicht ganz. An der ersten Biegung haben wir wieder kehrtgemacht, aber eine Abkürzung genommen, weil es dort draußen immer um einiges kühler als hier zwischen den Häusern ist, und gestern Abend war es recht kühl.«
»Und Selina? Hat sie da noch auf der Bank gesessen?«
»Ich kann es nicht genau sagen, aber ich meine schon, sie noch gesehen zu haben.«
»Und Sie sind ganz sicher, dass es Selina war?«, fragte Julia Durant vorsichtshalber noch einmal nach.
»Selbstverständlich. Wir kennen Selina, seit sie ein kleines Mädchen war.«
»Aber sonst ist Ihnen nichts an ihr aufgefallen?«
»Nein.« Frau Schreiner machte eine Pause, fuhr sich mit der Zunge kurz über die Unterlippe, dachte nach und sagte dann: »Moment, sie wirkte vielleicht etwas bedrückt, aber ich kann mich da auch täuschen. Ich weiß es nicht.«
»Können Sie das genauer erklären?«
»Nein, ihr Gesichtsausdruck war, wie soll ich es sagen, ein bisschen traurig. Es kann natürlich auch sein, dass sie einfach nur müde war oder das Licht getäuscht hat.«
»Ist Ihnen sonst irgendjemand während Ihres Spaziergangs begegnet? Jemand, der vielleicht auch Selina gesehen haben könnte?«
Frau Schreiner überlegte wieder, blickte ihren Mann an, der wie eine Mumie dasaß und den Kopf schüttelte. »Es war sehr ruhig gestern Abend. Ich meine, wir haben natürlich hier in der Straße und dort, wo noch Häuser sind, den einen oder anderen gesehen, aber als wir auf den Weg am Spielplatz einbogen, da waren wir allein. Dort ist sonst im Sommer abends meistens mehr los. Es war sogar erstaunlich ruhig. Ich kann das sagen, weil wir seit beinahe fünfundzwanzig Jahren hier wohnen.«
»Haben Sie einen jungen Mann auf einem Fahrrad gesehen?«, fragte Julia Durant.
»Kannst du dich an einen jungen Mann auf einem Fahrrad erinnern?« Frau Schreiner blickte erneut ihren Mann an, der wieder nur den Kopf schüttelte und ohne die Beamten anzusehen murmelte: »Nein.«
»Wir können Ihnen leider nichts anderes sagen, wir haben nur Selina gesehen. Wir wünschten, wir könnten Ihnen weiterhelfen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert«, meinte sie und stand zusammen mit ihrem Mann auf. Die Besorgnis in ihrem Gesicht war nicht geheuchelt, als sie fortfuhr: »Wir hoffen, dass alles gut wird und Sie Ihre
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