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Kaltes Blut

Kaltes Blut

Titel: Kaltes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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kannst ja auch niemandem verraten, wer dir deine Flügel gegeben hat. Und keiner wird je herausfinden, dass ich der Engelmacher bin.
    Jetzt, mit Einbruch der Dunkelheit, schwand die Unruhe allmählich, und wie immer bei Neumond – er liebte die düstere Energie der schwarzen Nacht – fühlte er eine unbändige Kraft in sich aufsteigen, eine Kraft, die ihn glauben ließ, dass er zu Großem berufen war. War ihm nicht erst kürzlich wieder einmal gesagt worden, er sei ein großartiger Mensch, mit besonderen Fähigkeiten und Gaben? Ja, natürlich, das war er. Er war etwas Besonderes. Nein, nicht etwas, sondern jemand. Er war ein Mensch, ein großer Mensch. Chopin klingt herrlich, dachte er still in sich hineinlächelnd und schloss für Sekunden die Augen, als er seinAuto vor der Garage stoppte, auf die Fernbedienung drückte und sich das Tor wie von Geisterhand lautlos hob. Er fuhr hinein, das Tor senkte sich genauso leise wieder. Er nahm die CD aus dem Spieler, steckte sie in die Hülle, sah auf seine Schuhe und ging direkt von der Garage ins Haus. Im Wohnzimmer brannte Licht, er hörte Stimmen aus dem Fernseher.
    »Hallo, Liebling«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Tut mir Leid, dass es später geworden ist, aber ich war noch auf ein Bier weg.«
    »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, erwiderte sie nur. »Hast du eigentlich dein Handy nicht eingeschaltet? Ich habe ein paarmal probiert, dich zu erreichen. Dein Vater hat angerufen.«
    »Was will er denn jetzt schon wieder?«
    »Das hat er nicht gesagt. Es scheint aber wichtig zu sein, du sollst ihn auf jeden Fall zurückrufen.«
    »Das hat Zeit bis morgen. Was läuft im Fernsehen?«
    »Die Wache. Aber ich geh gleich ins Bett. Du bist sicherlich auch sehr müde.«
    »Eigentlich nicht. Du weißt doch, im Sommer komme ich mit sehr wenig Schlaf aus.«
    »Und ich brauche meine acht Stunden Schlaf. Hast du das von Selina gehört?«
    »Welche Selina?«, fragte er mit gespielter Ahnungslosigkeit und tat, als würde er überlegen, woher ihm der Name bekannt war.
    »Welche Selina?! Selina Kautz natürlich. Sie ist verschwunden. Seit gestern Abend. Sie haben es ein paarmal im Radio durchgegeben.«
    »Selina?!«, sagte er scheinbar bestürzt. »Das gibt’s doch nicht! So ein nettes Mädchen. Aber ich hatte heute so viel zu tun, ich kam gar nicht dazu, Radio zu hören. Weiß man denn schon Näheres?«
    »Nein, natürlich nicht. Nehme ich zumindest an. Ich möchte Helga im Moment auch nicht anrufen. Aber vielleicht besuche ich sie morgen.«
    »Das würde ich nicht tun, gib ihr noch ein paar Tage. Sie wird jetzt bestimmt von allen Seiten bestürmt. Sie braucht Ruhe.«
    »Wenn du meinst.«
    »Glaub mir, es ist besser so. Ich geh duschen und les noch etwas. Vielleicht höre ich auch noch ein bisschen Musik. Gute Nacht, Liebling.«
    »Gute Nacht. Und vergiss nicht, morgen deinen Vater anzurufen.«
    »Ja, ich ruf ihn an.« Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie lächelte ihn an, bevor sie ihren Blick wieder auf den Fernseher richtete.
    Er ging nach oben, schloss die Badezimmertür hinter sich, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Danach wickelte er ein Handtuch um seine Hüften und betrachtete seinen fast makellosen Körper im Spiegel. Ja, ich bin stark, und ich werde noch viel stärker werden. Er bleckte die strahlend weißen Zähne und fuhr sich mit einer Hand durch das nasse Haar. Viele sagten, er sehe viel jünger aus, als er tatsächlich war, und manche erschraken sogar, wenn sie sein Alter erfuhren. Es stimmt wohl, dachte er, ich bin ein altersloser Mensch. Er trocknete sich ab, rasierte sich, wie er das jeden Abend tat, und putzte die Zähne. In seinem Zimmer zog er sich eine schwarze Jeans, ein schwarzes Hemd und schwarze Turnschuhe an.
    Bis auf das Licht im Flur war alles dunkel, sie war in ihrem Zimmer. Er legte sein Ohr an die Tür, hörte, wie sie sich auszog, die Kleider wie immer sorgfältig auf den Bügel und anschließend an den Paravent hängte und ins Bett ging. Sie löschte das Licht der Nachttischlampe, er hörte noch einmal das Rascheln der Bettdecke. In spätestens fünf Minuten würde sie schlafen, und nicht einmal ein Donnerschlag konnte sie dann mehr wecken.
    Seit fast sechs Jahren schlief sie in diesem Zimmer. Sechs Jahre, in denen sie sich ihm verweigerte. Aber trotzdem liebte er sie, denn er konnte sie verstehen, ja, er verstand alles, selbst das, worüber andere nur den Kopf

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