Kaltes Blut
Anziehungskraft verloren hatte,im Gegenteil, sie war trotz der beiden Schwangerschaften noch attraktiver geworden. Ihr Mann lag bereits im Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick zur Decke gerichtet, nur die Nachttischlampe brannte. Sie ließ das Handtuch fallen und legte sich nackt zu ihm.
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte sie und schmiegte sich an ihn wie ein Schutz suchendes Kätzchen. »Was ist bloß schief gelaufen?«
Er antwortete nichts darauf, seine Gedanken waren weit weg. Seit fast einem Jahr hatte sie nicht mehr in seinem Bett geschlafen, seit fast einem Jahr herrschte eisige Kälte zwischen ihnen, gingen sie sich aus dem Weg, als wären sie Fremde, die sich zufällig einmal gesehen und dann wieder aus den Augen verloren hatten. Und er hatte sich nicht nur einmal gefragt, ob und inwieweit die Kinder etwas davon mitbekamen. Aber er hatte die Hoffnung nie aufgegeben, dass der Tag kommen würde, an dem sie wieder wie früher miteinander verkehrten, liebevoll und zärtlich und immer füreinander da.
»Warum antwortest du nicht?«, fragte sie, legte ihre Hand auf seine Brust und spürte seinen gleichmäßigen Herzschlag.
»Ich denke nur nach«, sagte er.
»Und worüber?«
»Alles Mögliche.«
»Soll ich wieder gehen?«
»Nein, so war das nicht gemeint. Lass uns einfach schlafen. Möchtest du in meinen Arm kommen?«
»Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, ich konnte es nur nicht sagen.«
Er wollte etwas erwidern, doch sie legte einen Finger auf seine Lippen. Ihre Haut fühlte sich so warm und geschmeidig an wie eh und je. Ihr braunes Haar duftete, wie nur ihr Haar duften konnte, und er erinnerte sich daran, wie er früher immer seine Nase ganz dicht an ihr Haar gehalten hatte, um diesen Duft einzusaugen. In all den Jahren hatte sie sich äußerlich nur wenig verändert. Sie wareine ausgesprochen hübsche Frau mit einem beinahe makellosen Gesicht, in dem die blauen Augen und die nicht zu vollen, edel geformten Lippen das Markanteste waren. Sie war zweiunddreißig, sah aber aus wie fünfundzwanzig. Er hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt, doch das hatte Zeit. Außerdem drehten sich seine Gedanken jetzt um Selina Kautz, die er seit ihrer Geburt kannte. Ihn und Emily verband eine enge Freundschaft mit Helga und Peter Kautz, sie hatten schon viel miteinander unternommen, zweimal waren sie sogar gemeinsam in Urlaub gefahren.
Obwohl er müde war, konnte er nicht schlafen, während sie in seinem Arm liegend gleichmäßig atmete. Die Gedanken an Selina ließen ihn nicht mehr los. Irgendwann fiel er doch in einen Dämmerschlaf, aus dem er um halb drei wieder erwachte. Er zog vorsichtig den Arm unter ihrem Kopf hervor, stand auf, ging in die Küche, trank ein Glas Milch und setzte sich an den Tisch. Er stützte den Kopf in die Hände, die Augen geschlossen, in ihm eine Leere wie vor ziemlich genau einem Jahr, als sie ihm sagte, sie liebe ihn nicht mehr. Sein Herz pochte, das Ticken der Uhr an der Wand war das einzige Geräusch.
Er hörte sie nicht kommen, spürte nur mit einem Mal ihre Hand auf seiner Schulter. Ihr Atem streichelte sein Gesicht, als sie sich von hinten über ihn beugte und ihren Kopf an seinen legte.
»Was hast du?«, fragte sie sanft.
»Ich kann nicht schlafen.«
»Und warum nicht?«
»In letzter Zeit leide ich häufig unter Schlafstörungen. Ich habe mich daran gewöhnt. Du hast es nur nie mitbekommen.« Er log, aber er konnte ihr unmöglich den wahren Grund für seine heutige Schlaflosigkeit nennen, da sie diesen Grund nie verstanden hätte.
»Hör zu«, sie setzte sich neben ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter, »ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe, und ich möchte mich dafür entschuldigen. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun. Ich weiß aber auch, dass es lange dauern wird, bis wir alles aufgearbeitet haben, sofern du mir überhaupt verzeihst. Aberglaube mir, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, auch wenn ich einmal etwas anderes behauptet habe. Und das ist die Wahrheit. Und die Wahrheit ist auch, dass ich mich für mein Verhalten schäme. Ich möchte am liebsten im Erdboden versinken, so sehr schäme ich mich.«
»Schon gut«, sagte er und nahm ihre Hand. »Vielleicht ist es einfach der Altersunterschied. Du hast nie die Gelegenheit gehabt …«
Sein Blick war traurig und mitfühlend, und als er nicht weitersprach, sagte sie: »Was für eine Gelegenheit habe ich nie gehabt?«
»Als wir uns zum ersten
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