Kaltes Blut
süffisantem Lächeln.
»Das ist es ja, was mich so erschüttert. Ich glaub, ich geh jetzt besser ins Bett. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, und träum was Süßes«, sagte sie und schickte ihm einen seltsam melancholischen Blick hinterher. Als er bereits an seinem Zimmer angelangt war, rief sie ihm zu: »Wann hast du Selina eigentlich das letzte Mal gesehen?«
»Was soll diese Frage?«
»Jeder, der mit ihr in letzter Zeit zu tun hatte, wird in den nächsten Tagen vernommen werden, da bin ich ganz sicher. Auch du als der Leibarzt unserer besten Freunde.«
»Ja und, weiter? Wenn du damit auf etwas Bestimmtes hinauswillst, dann sag’s doch einfach.« Er ließ die Klinke wieder los. »Aber gut, wenn du’s genau wissen willst, ich habe sie zuletzt gestern Abend auf dem Hof gesehen. Zufrieden?«
»Entschuldige bitte, ich bin nur ein wenig durcheinander, wie alle, die mit Selina zu tun haben oder hatten. Wir haben vorhin sogar schon Mutmaßungen angestellt, wer alles für ihr Verschwinden in Frage kommen könnte. Sei mir nicht böse, ich bin einfach nur durch den Wind. Ich hoffe ja auch, dass alles gut wird und sie wieder auftaucht. Ich hoffe es inständig. Aber wenn sie nicht auftaucht, wird die Polizei Fragen stellen.«
Andreas Gerber kam zurück, ging auf seine Frau zu und blieb etwa einen Meter vor ihr stehen. »Sollen sie doch fragen. Aber ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, ich bin einfach nur müde. Kannst du das nicht verstehen?«
»Doch, schon. Also, schlaf schön«, sagte sie mit auf einmal sanfter Stimme, die er so schon lange nicht mehr gehört hatte. Eine Stimme, die für ihn noch immer wie eine wohlklingende Melodie war.
»Was soll das?«, fragte er mit misstrauischem Blick.
»Was soll was?«, fragte sie scheinbar naiv zurück.
»Diese Freundlichkeit. Es ist lange her …«
»Alles eine Frage des Wandels. Menschen ändern sich, das müsstest du doch am besten wissen. Schau mir doch mal in die Hände, ob sich meine Linien verändert haben.« Sie stellte das Glas auf den Tisch und streckte ihm die Handflächen entgegen. »Also, was siehst du?«
Er warf nur einen kurzen Blick auf die Handinnenflächen und die darin eingezeichneten Linien und sagte: »Weichheit, Sensibilität, Umstellung.«
»Und was heißt das konkret?«
»Finde es heraus. Ich kann dir nur so viel sagen, deine Schale ist nicht so hart, wie du mir immer vorspielst. In deinem tiefsten Innern bist du noch immer das Mädchen, in das ich mich vor sechzehnJahren unsterblich verliebt habe. Der Zynismus, den du mir gegenüber so oft an den Tag legst, ist nicht deine wahre Natur. Ich sage dir noch einmal, in deiner Hand steht, dass du dich umstellst. Deine Linien haben sich übrigens tatsächlich verändert. Und jetzt gehe ich endgültig ins Bett, um sechs klingelt mein Wecker.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte sie kaum hörbar, die Augen zu Boden gerichtet, als würde sie sich schämen. Sie stand mitten im Raum wie ein unschuldiges kleines Kind. Er meinte zu sehen, wie sie zitterte, als hätte es sie eine beinahe unmenschliche Überwindung gekostet, diese Frage auszusprechen.
»Auf einmal?«
»Ich fühle mich unendlich beschissen, ehrlich. Ich möchte gerne mit dir in einem Bett schlafen … Wie früher.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich allein schlafen möchte. Ich muss jetzt aber ins Bad, es ist schon nach elf.«
»Danke«, sagte sie leise. Er hörte es nicht mehr.
Sie nahm das noch volle Glas, ging damit in die Küche und schüttete den Inhalt in den Ausguss. Dann holte sie tief Luft, ein paar Tränen lösten sich und liefen über ihre Wangen. Es gab Tage, da hasste sie sich und das Leben. Heute ganz besonders.
Sie hörte das Wasser im Bad rauschen, warf einen Blick in die Zimmer von Celeste und Pauline, die beide schliefen, und nahm sich vor, in Zukunft mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Es war kein Zustand, dass sich dreimal in der Woche die Großmutter um sie kümmerte, ihnen das Abendessen bereitete, sie schlafen legte, während sie ihre Nachmittage und Abende auf dem Hof verbrachte, auch wenn die fünfjährige Pauline und ihre zwei Jahre ältere Schwester Celeste inzwischen des Öfteren mit zum Reiten kamen. Nein, sie hatten es nicht verdient, so von ihr vernachlässigt zu werden.
Sie ging, nachdem sie die Türen angelehnt hatte, in das andere Bad, entkleidete sich und stellte sich kurz unter die Dusche. Anschließend fönte sie ihr Haar und wickelte sich ein Handtuch um den Körper, der nichts von seiner
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