Kaltes Blut
Mal begegneten, warst du sechzehn und ich schon neunundzwanzig. Dazwischen liegt eine halbe Ewigkeit. Du konntest dich nie, wie soll ich es sagen, austoben. Und ich hatte bereits eine gescheiterte Beziehung hinter mir und eine bittere Lektion gelernt …«
»Na und? Wo ist das Problem?«, unterbrach sie ihn. »Vielleicht war es ja gerade das, was mich so an dir fasziniert hat. Du warst damals so einsam, und ich werde nie vergessen, wie du mich immer wieder angeschaut hast. Und in diesen Mann mit den traurigen Augen habe ich mich wahnsinnig verliebt. Mich hat jedenfalls die Sache mit Selina zum Nachdenken gebracht. Ich habe mich vorhin gefragt, welchen Wert das Leben hat. Und ich bin zu dem Entschluss gekommen, etwas zu ändern. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass alles wieder so wird wie früher.«
»Emily, es kann nicht mehr so werden wie früher. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Doch wir können noch einmal versuchen, füreinander und miteinander zu leben. Du bist die Frau, die ich immer wollte, und du wirst es auch immer bleiben, ganz gleich, was kommt. Aber das letzte Jahr war die Hölle für mich, jeder Tag war Hölle pur. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selber zu sein, ich habe mir den Kopf zermartert und mich ein ums andere Mal gefragt, was ich falsch gemacht habe, und du glaubst gar nicht, wie viel einem da plötzlich einfällt. Trotzdem, ich hätte diesen Zustand nicht mehr viel länger ertragen. Ich will dir nicht wehtun, ich möchte aber auch nicht, dass man mir noch mehr wehtut. Ichmöchte endlich Ruhe in meinem Leben haben. Und ich denke dabei auch an Pauline und Celeste. Emily, sie brauchen einen Vater und eine Mutter. Außerdem fühle ich mich im Moment unendlich alt.«
»Alt!« Sie lachte auf. Er liebte dieses warme, weiche Lachen, bei dem sich feine Grübchen an den Mundwinkeln bildeten. »Du bist nicht alt. Die dreizehn Jahre Altersunterschied sieht man uns doch nicht an.«
Er lächelte versonnen. »Meine Haare werden allmählich grau, meine Augen schlechter, der Zahn der Zeit nagt unaufhörlich an mir. Die Zeit bleibt auch für mich nicht stehen.«
»Das bleibt sie für keinen. Irgendwann bin auch ich fünfundvierzig, und dann? Ich kann es nur noch einmal betonen, ich bereue zutiefst, was ich dir angetan habe. Lass uns einfach die letzten Monate streichen. Bitte. Tun wir so, als hätte es dieses Jahr nie gegeben. Ich will wieder mehr für dich und die Kinder da sein. Bitte gib mir eine Chance.«
»Wir haben beide Fehler gemacht«, sagte er milde lächelnd, »und wir werden nie aufhören, welche zu machen. Aber wir können daraus lernen.« Er schaute zur Küchenuhr, fast halb vier. »Komm, ich will versuchen, noch wenigstens zwei Stunden Schlaf zu kriegen.«
Sie standen auf, Emily legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn so leidenschaftlich wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Vielleicht, dachte er, ist es wahr, was sie gesagt hat. Vielleicht. Aber es gab noch viele Fragen zu klären, bevor dieses Kapitel geschlossen werden konnte.
Freitag, 7.25 Uhr
Julia Durant wachte nach einem tiefen Schlaf um halb sieben von dem nervtötenden Geräusch des Weckers auf. Dominik Kuhn knurrte nur und drehte sich auf die andere Seite. Siesetzte sich auf, nahm die Wasserflasche, die neben ihrem Bett stand, schraubte den Verschluss ab und trank einen Schluck. Dann ging sie leise ins Bad, erledigte ihre Morgentoilette, wusch sich, putzte die Zähne, legte etwas Make-up auf und zog sich an. Sie aß eine Schüssel Cornflakes mit Milch und Zucker und trank eine Tasse Kaffee. Ein Blick aufs Handy, keine neue Nachricht. Als sie um halb acht das Haus verließ, blies ihr ein angenehm kühler Wind entgegen. Sie nahm die Zeitung aus dem Briefkasten, überquerte die Straße und stieg in ihren Corsa. Sie fühlte sich gut, auch wenn sie wusste, dass ein anstrengender und vermutlich sehr langer Arbeitstag vor ihr lag. Noch war der Verkehr in die Innenstadt fließend, sie brauchte kaum eine Viertelstunde bis zum Präsidium.
Berger war wie immer der Erste im Büro gewesen, alle anderen Schreibtische waren noch verwaist. Christine Güttler war vor einer Woche von einem Jungen entbunden worden und würde mindestens für die nächsten zwei Jahre ausfallen, vermutlich sogar länger, Wilhelm hatte noch drei Wochen Urlaub, Hellmer und Kullmer kamen in der Regel gegen acht ins Büro, genau wie Doris Seidel, seit drei Monaten das neue Gesicht bei der Mordkommission und seit dem 1. Juli Bergers Abteilung
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