Kaltes Blut
Hellmer im Flüsterton. »Ist sie krank oder …«
»Keine Ahnung. Frag sie doch, wenn du dich traust. Vielleicht ist sie krank, oder sie hat einfach nur Probleme.«
Nachdem sie sich kurz umgeschaut hatten, setzten sie sich auf die rote Stoffcouch. Nach etwa fünf Minuten hörten sie Schritteauf der Treppe. Nathalie hatte sich schnell eine Jeans und ein bis über den Po reichendes graues Sweatshirt übergezogen. Sie war schlank, hatte jedoch bereits eine sehr frauliche Figur, wie die meisten Mädchen ihres Alters heutzutage. Auffällig waren ihr langes dunkles Haar und die großen dunklen Augen, aus denen sie die Kommissare leicht verstört ansah.
»Hallo, Nathalie«, sagte Durant, die aufgestanden war und ihr die Hand reichte. »Wir sind von der Polizei und möchten dir gerne ein paar Fragen stellen. Wir machen am besten die Tür zu. Ich darf dich doch duzen?«
Sie nickte und wirkte schüchtern, beinahe verängstigt, als sie auf dem Zweisitzer genau gegenüber von den Beamten Platz nahm, als würde sie sich vor ihnen fürchten. Sie legte die nackten Füße hoch, ihr ganzer Körper war angespannt.
»Du weißt sicher, weswegen wir mit dir sprechen wollen?«, fragte Durant behutsam.
»Denke schon. Selina ist noch immer weg?«
»Ja, leider. Es heißt, du und Selina, ihr seid eng befreundet. Stimmt das?«
»Ja.«
»Wann hast du sie denn das letzte Mal gesehen?«
»Am Dienstag.«
»Am Dienstag. Und am Mittwoch nicht?«
Nathalie schüttelte nur den Kopf.
»Gab es einen Grund, weshalb ihr euch am Mittwoch nicht gesehen habt?«
»Wir waren ja nicht jeden Tag zusammen. Am Mittwoch habe ich mich nicht gut gefühlt.«
»Habt ihr am Mittwoch telefoniert?«
»Sie hat mich am Nachmittag angerufen und gefragt, ob ich mit zum Reiten komme, aber es ging wirklich nicht.«
»Verstehe«, sagte Durant, die sich den Grund denken konnte. »Über was habt ihr am Mittwoch am Telefon gesprochen?«
»Alles Mögliche. Über Frankreich hauptsächlich.«
»Ihr seid beide im Reitclub in Eddersheim. Und ihr wart zusammen mit ein paar anderen aus dem Club in Frankreich. War es schön?«
»Schon. Wir haben eine Menge gesehen, wir waren auch in der Camargue …«
»Dort war ich auch schon mal. Die Pferde sind wirklich prächtig, aber da erzähl ich dir ja nichts Neues. Ist denn in Frankreich irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen?«
Nathalie zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, senkte den Blick und antwortete: »Nein, es war einfach nur schön. Was glauben Sie, was mit Selina ist?«
»Das wissen wir nicht, deswegen sind wir ja hier. Wir befragen alle ihre Freundinnen und all jene, die mit ihr zu tun haben. Wie oft seht ihr euch denn so in der Regel?«
»In der Schule jeden Tag. Ansonsten mindestens dreimal in der Woche, wenn wir Volti machen.«
»Und du schläfst manchmal bei ihr und sie bei dir?«
»Ja.«
»Wann habt ihr das zuletzt gemacht?«
»Zwei Tage bevor wir nach Frankreich gefahren sind. Ich habe bei ihr übernachtet.«
»Und danach habt ihr euch nur noch einmal am Dienstag gesehen. Habt ihr etwas unternommen?«
»Nein, sie war hier, und wir haben draußen auf der Terrasse gesessen, uns unterhalten und später ein bisschen Musik gehört.«
»War es ein normales Gespräch? Ich meine, ein Gespräch so von Frau zu Frau, oder war es eher belanglos?«
»Ganz normal.«
»Hat Selina auf dich an diesem Tag anders gewirkt als sonst? Wirkte sie vielleicht traurig oder bedrückt?«
Nathalie überlegte und schüttelte den Kopf. »Nein, es war eigentlich so wie immer. Selina war gut drauf.«
»Und ihr habt nicht für Mittwochabend verabredet, dass Selina hier übernachten sollte?«
»Nein, aber das habe ich schon ihren Eltern gesagt. Wir waren nicht verabredet.«
»Hat sie einen Freund?«
»Sie hatte einen, Dennis, aber mit dem hat sie schon vor einiger Zeit Schluss gemacht.«
»Und danach hatte sie keinen mehr?«
»Nein, sie wollte vorläufig keinen Freund haben. Dennis hat sie zu sehr eingeengt, hat sie mir jedenfalls gesagt. Sie brauchte mehr Freiraum, sie hatte ja nicht nur ihr Pferd, sondern sie hat auch Klavierunterricht genommen und dies und jenes gemacht.« Erstmals sprach Nathalie in der Vergangenheit. Julia Durant ging aber nicht darauf ein und stellte ihre nächste Frage.
»Hat Selina in letzter Zeit vielleicht irgendwelche Probleme zu Hause gehabt, die sie veranlasst haben könnten, von dort wegzulaufen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun, es gibt viele Mädchen in eurem Alter, die
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