Kaltes Blut
jederzeit zu erreichen. Und mein Kollege, Herr Hellmer, wohnt im Sterntalerweg, das Eckhaus mit der Glaskuppel. Tschüs dann.«
»Hm.«
Sie sah den Kommissaren nach, bis sie die Tür geschlossen hatten. Ein paar Tränen lösten sich aus ihren Augen und flossen über ihre Wangen. Sie rannte nach oben in ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu, warf sich aufs Bett und heulte Rotz und Wasser.
Freitag, 10.10 Uhr
Wir müssen unbedingt noch mal in Selinas Zimmer«, sagte Julia Durant auf dem Weg zum Auto. »Nathalie hat mir eben erzählt, dass sie zwar kein Tagebuch führt, aber hin undwieder besondere Vorkommnisse oder Erlebnisse aufschreibt, und jetzt halt dich fest – sie schreibt diese Dinge in ein stinknormales Schulheft. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Andererseits, welche Eltern schauen sich schon die Schulhefte ihrer Kinder an? Irgendwie logisch, was?«
»Könnte zumindest eine Spur sein. Aber vorher warten wir auf die Kollegen des Suchtrupps. Während ihr draußen wart, hab ich kurz bei Berger angerufen und gesagt, dass sie die Rossertstraße bis zum Ende durchfahren sollen. Sie sind schon auf dem Weg und müssten jeden Moment kommen.«
Keine fünf Minuten später trafen die Wagen ein. Überall gingen Fenster auf, Neugierde und Sensationslust.
»Ich wette mit dir, die meisten von denen warten nur darauf, dass Selina gefunden wird – und zwar tot. Die Sensation schlechthin in diesem Kaff. Damit wäre dann wieder für mindestens vier Wochen für Gesprächsstoff gesorgt«, sagte Durant zynisch.
»Du kennst das doch. Man gibt sich entsetzt, in Wirklichkeit ist es eine willkommene Abwechslung vom drögen Alltag.«
»Scheiß drauf. Was interessieren mich die Leute hier. Sag du Köhler, wo sie überall suchen sollen, ich geh rüber zu Selinas Eltern und bereite sie auf die Aktion vor, wenn sie’s nicht schon längst wissen.«
»Die wissen’s! Aber die Suche kann dauern, hier gibt’s unheimlich viele Büsche und Sträucher und verwinkelte Stellen.«
»Dafür sind sie schließlich auch ausgebildet«, entgegnete Durant lakonisch und machte sich auf den Weg.
»Hi«, sagte Hellmer und reichte Köhler die Hand. »Ich zeig euch gleich mal, welches Gebiet zuerst abgesucht werden muss.« Sie stellten sich an den Rand des Spielplatzes, Hellmer deutete mit der Hand nach Osten zur Mainstraße hin, dann nach Norden, wo sich das kleine Waldstück entlang der Wasserwerkchaussee befand, und schließlich nach Westen, wo sich Getreidefelder, Wiesen und Äcker abwechselten. »Und dort hinten im Südwesten ist der Baggersee, recht hohes Gras und unebenes Gelände, auch mit sehrvielen Büschen und kleinen Wegen, die eher selten benutzt werden. Alles weitere überlass ich dir. Ist so weit alles klar?«
»Alles klar. Dann fangen wir am besten oben bei der Straße an und arbeiten uns langsam nach unten vor. Wir haben auch zwanzig Fährtenhunde dabei, aber du weißt ja selbst, wie das bei solchen Aktionen meistens ist. Und Leichenhunde haben wir keine, die müssten wir erst anfordern. Es ist echt zum Kotzen, aber eine Weltstadt wie Frankfurt und nicht ein Leichenhund …« Er sah Hellmer vielsagend an.
»Ja, Mann, ich weiß, Peggy, Adelina und all die andern wurden entweder gar nicht oder eher zufällig durch Spaziergänger gefunden. Gebt trotzdem euer Bestes, bitte.«
»Das tun wir immer, aber das Beste reicht oftmals nicht. Leider. Bis dann, ich melde mich bei dir.«
Hellmer stieg in den Lancia und parkte vor seiner Garage. Er ging die wenigen Schritte bis zur Familie Kautz zu Fuß.
Freitag, 10.25 Uhr
Peter Kautz sah genauso aus, wie Julia Durant es erwartet hatte, übernächtigt, dunkle Ringe unter den Augen, unrasiert, die Bewegungen fahrig und nervös.
»Bitte schön«, sagte er mit schleppender Stimme und machte die Tür frei, »das Haus ist voll. Und wie ich gehört habe, ist sogar schon eine ganze Armee eingetroffen, um nach Selina zu suchen. Damit ist ja wohl klar, dass selbst Sie nicht mehr daran glauben, meine Tochter könnte noch am Leben sein. Wie war das doch gleich noch, was haben Sie gestern gesagt: Geben Sie die Hoffnung nicht auf! Und kaum zwölf Stunden später rücken Sie hier …«
»Ich möchte mich dafür entschuldigen«, unterbrach sie ihn und fühlte sich mies dabei, »aber ich hatte gehofft, ich könnte es Ihnen sagen, bevor …«
»Bevor was? Bevor ich’s von den andern hier höre? Wo ist der Unterschied?« Und als Durant nicht antwortete, fuhr er fort: »Sehen Sie, es gibt keinen.
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