Kaltes Blut
zu denen Selina dann und wann Kontakt hat?«
»Zu Männern hat sie überhaupt keinen Kontakt, höchstens zu Jungs aus der Schule. Ich schreib Ihnen die Telefonnummern und Adressen auf. Aber die werden Ihnen auch nicht mehr sagen können als ich.«
»Wir müssen ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen.«
Nathalie holte einen Block und einen Stift vom Sideboard und schrieb aus dem Gedächtnis die Telefonnummern und Adressen auf.
»Die hast du alle im Kopf?«, sagte Julia Durant anerkennend. »Ich kann mir kaum meine eigene Telefonnummer merken«, log sie, denn von den meisten Kollegen wurde sie um ihr geradezu phänomenales Gedächtnis beneidet.
Nathalie fühlte sich geschmeichelt und lächelte verlegen. »Ist gar nicht so schwer. Hier, das sind vier Jungs, zwei von denen gehen in unsere Klasse, zwei sind in der Oberstufe.«
Julia Durant nahm das Blatt, warf einen Blick darauf und reichte es Hellmer.
»Einer wohnt in Hattersheim, die andern drei in Okriftel. Peter und Doris sollen sich drum kümmern«, sagte Hellmer.
»Nathalie, können wir beide einen Moment allein sprechen? Vielleicht draußen auf der Terrasse, oder hören die Nachbarn mit?«
»Nee, die nebenan sind verreist, und die auf der andern Seite gehen nie raus.«
Durant nickte Hellmer zu und ging mit Nathalie in den Garten. Die Sonne stand schon jetzt hoch, allerdings war der Himmel von vielen Wolken bedeckt, und nur hier und da gab es eine Lücke. Dennoch schien sich die Wettervorhersage zu bestätigen, nach der die Hitze mit Macht kommen würde, denn trotz der Wolken war es ziemlich warm.
»Ich habe einen Grund, weshalb ich mit dir allein sprechenmöchte«,sagte sie. »Jetzt mal unter uns – gibt es irgendein Geheimnis, das du mit Selina teilst? Oder hat Selina dir gegenüber etwas erwähnt, was du unter gar keinen Umständen jemand anderem erzählen darfst? Mädchen und Frauen sind anders als Männer. Mädchenfreundschaften sind wesentlich intensiver, Mädchen führen Tagebuch, Jungs hocken eher vor dem Computer oder dem Fernsehapparat oder gehen in die Kneipe. Jetzt sag mir einfach, ob es ein solches Geheimnis gibt, bei dem ihr euch geschworen habt, es niemals, komme was wolle, zu verraten?«
Nathalie schüttelte zaghaft den Kopf. »Sorry, aber wenn Sie irgendwas Sensationelles hören wollen, damit kann ich nicht dienen. Klar gibt es Geheimnisse, jeder hat welche, aber das ist Kinderkram.«
»Ganz ehrlich?«
»Ganz ehrlich.«
»Und was ist mit einem Tagebuch? Selina führt doch sicher eins, oder?«
»Wir haben uns zwar mal drüber unterhalten, aber nee, ich weiß nicht, ob sie eins hat.«
»Und du?«
»Ab und zu schreib ich mal was auf, wenn irgendwas Besonderes war, aber so richtig Tagebuch … Nee.«
»Wenn du was aufschreibst, benutzt du dafür ein richtiges Tagebuch?«
»Nee, ich hab kein Tagebuch. Ich nehme ein Schulheft. Da guckt keiner nach.«
»Weiß Selina davon?«
»Wir haben uns mal drüber unterhalten. Sie hat das auch so gemacht. Aber das ist schon eine ganze Weile her.«
»Es könnte sein, dass du uns sehr geholfen hast. Danke. Trotzdem noch eine Frage: Würdest du dich als die beste Freundin von Selina bezeichnen?«
»Ich denk schon, aber da sind auch noch Katrin und Miriam, und dann noch Linda und Sabine in Eddersheim. Beste Freundin«,sie zuckte mit den Schultern, schien mit einem Mal unsicher zu sein, »wir verstehen uns gut, können über alles reden, aber … Fragen Sie die andern. Obwohl, Katrin scheidet aus, sie darf keine Freunde haben. Ihr Vater ist ein echtes Arschloch. Mich wundert sowieso, dass sie zum Reiten gehen darf. Aber ansonsten verstehen wir uns eigentlich alle gut, weil wir dasselbe Hobby haben.«
»Inwiefern ist er ein … Arschloch?«
»Der tickt nicht ganz sauber. Schreit die ganze Zeit rum und verprügelt Katrin und auch ihre Mutter und … Ach, sie tut mir einfach Leid. Sie würde wirklich am liebsten abhauen, und ich könnt’s ihr nicht mal verdenken, aber wohin soll sie gehen? Sie hat ja niemanden außer ihre Eltern.«
Julia Durant würde sich mit Katrin unterhalten und bei der Gelegenheit vielleicht auch ihren Vater kennen lernen und sich ein Bild von ihm machen. Sie gingen zurück ins Haus, Hellmer erhob sich.
»Dann noch mal vielen Dank für deine Hilfe. Und hoffen wir, dass alles ein gutes Ende nimmt. Tschüs.«
»Und was machen Sie jetzt?«, fragte Nathalie.
»Suchen. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Ach ja, sollte dir noch was einfallen, hier ist meine Karte. Ich bin
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