Kaltes Blut
endlich eine Entscheidung für sich treffen, um frei zu werden. Und denken Sie nicht immer, sie seien gefühllos oder bindungsunfähig. Das sind Sie nicht, Sie lassen sich nur zu leicht ausnutzen, und das wissen Sie. Das hat bei Ihnen zu einer inneren Verhärtung geführt, die aber zu beheben ist. Sie sollten jedoch auf Ihre Lunge und Ihren Magen achten. Rauchen Sie?«
Julia Durant starrte Gerber an, als säße ihr ein Gespenst gegenüber. Sie begriff nicht, wie er allein durch einen Blick in ihre Hände all dies über sie wissen konnte.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte sie mit tonloser Stimme.
Er lächelte und antwortete: »Sie könnten es auch, denn Sie sind eine sehr intuitive Frau. Aber bei Ihnen funktioniert die Kombination Intuition und Ratio nicht richtig. Bei Ihnen gibt es nur das eine oder das andere. Doch auch dafür gibt es Lösungen. Sie müssen nur bereit sein, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, und vor allem, Sie müssen lernen, loszulassen. Sie denken zu viel über Dinge nach, die gewesen sind und nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Ich werde Ihnen etwas gegen Ihre Kopfschmerzen aufschreiben und etwas, das Ihnen hilft, Ihre innere Mitte zu finden.«
Er holte einen Zettel und einen Stift und schrieb es auf. »Silicea gegen die Kopfschmerzen, bei akuten Beschwerden alle zwanzig Minuten zwei Globuli. Acidum phosphoricum und Nux vomica gegen Erschöpfung und Unruhe. Davon vorerst täglich alle halbe Stunde je zwei Globuli.«
»Globuli?«
»Das sind kleine Kugeln. Außerdem sollten Sie sich mehr Ruhe und Schlaf gönnen und Ihr Privatleben besser organisieren. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Besorgen Sie sich das in der Apotheke. Es kann allerdings sein, dass man es nicht vorrätig hat und bestellen muss.«
»Und was ist mit meinen Kopfschmerzen jetzt?«
Gerber zuckte mit den Schultern und sagte: »Heute müssten Sie sich noch einmal mit einer ganz herkömmlichen Schmerztablette begnügen. Am besten Paracetamol. Aspirin ist nicht gut für den Magen …«
»Sie sind doch aber Schulmediziner, oder nicht?«, unterbrach sie ihn.
»Ich bin Schulmediziner, aber auch Naturheilkundler und Homöopath. Ich lehne chemische Arzneimittel in der Regel ab, nur in Ausnahmefällen verordne ich sie.«
»Und heute Nachmittag bei Herrn und Frau Kautz, das war eine Ausnahme?«
»Natürlich. Hier musste sehr schnell geholfen werden. Und Valium, auch wenn es von vielen noch so verdammt wird, ist immer noch eines der am besten verträglichen Beruhigungsmittel. Es hat kaum Nebenwirkungen, der einzige Nachteil ist, dass es bei längerem Gebrauch abhängig macht. Das kann einem bei den Globulis nicht passieren.«
»Vielen Dank, ich werde mir morgen die Sachen besorgen.«
»Kann ich noch etwas für Sie tun?«
»Ja, unter Umständen, Dr. Gerber. Wenn ich schon mal hier bin, was können Sie mir als ihr Patenonkel über Selina sagen? Was war sie für ein Mädchen?«
»Was könnte ich Ihnen sagen, was Sie nicht bereits wüssten?«, erwiderte er schulterzuckend. »Intelligent, aufgeschlossen allem Neuen gegenüber, neugierig, weltoffen und ihrer Zeit weit voraus.«
»Hm, hm. Kennen Sie den Spruch ›Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren‹?«
War er eben noch völlig entspannt, so zuckte Gerber bei der Frage kurz zusammen, hatte sich jedoch schnell wieder im Griff. »Kann sein, dass ich ihn schon einmal gehört habe. Warum fragen Sie?«
»Der Spruch stammt von einem gewissen André Gide. Sagt Ihnen der Name etwas?«
»Natürlich. Er war ein französischer Schriftsteller und Humanist. Er hat in den Vierzigern den Nobelpreis für Literatur erhalten. Ich habe sogar zwei Bücher von ihm. Worauf wollen Sie hinaus?«
Hellmer war wieder ins Haus gekommen. Er ließ seinen Blick durch das großzügig geschnittene und elegant eingerichtete Zimmer schweifen.
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Aber vorab noch eine Frage: Wie war denn Ihr persönliches Verhältnis zu Selina?«
Gerber erhob sich, kleine Schweißperlen hatten sich nach dieserFrage auf seiner Stirn gebildet. »Von was für einem persönlichen Verhältnis sprechen Sie?«
»Ich will es Ihnen sagen; wir haben bei Selina so etwas wie ein Tagebuch gefunden. Eigentlich kein Tagebuch im herkömmlichen Sinn, sie hat ein Schulheft dafür benutzt. Darin haben wir unter anderem den eben genannten Spruch gefunden, den Namen André hat sie rot eingekreist. Denselben Spruch hat sie
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