Kaltes Blut
gehört, und wenn doch, so würde es denjenigen nicht interessieren. Ein letzter Blick auf den Toten, dessen Füße etwa vierzig Zentimeter über dem Boden baumelten und dessen Augen glanzlos auf die Fliesen starrten.
Er zischte: »Ruhe in Frieden, Arschloch. Du hast wirklich gemeint, du könntest mich erpressen, was? Da müssen schon andere kommen. Aber von einem wie dir lass ich mir nichts sagen. Ich lass mir von keinem mehr etwas sagen, kapiert, du mieses Stück Scheiße? Mal sehen, wann man dich hier finden wird. Vielleicht in einer Woche, vielleicht aber auch erst in einem Jahr, wenn von dir nur noch die Knochen übrig sind.«
Er blieb noch eine Stunde, wühlte alle Papiere durch, die er finden konnte, doch er entdeckte tatsächlich nichts, das auf ihn hinwies oder worin sein Name erwähnt wurde. Er löschte das Licht, vergewisserte sich, dass niemand ihn sah, ging so leise es möglich war nach unten zu seinem Wagen und fuhr nach Hause.
Freitag, 20.45 Uhr
Linsenberger Straße, vor der Zufahrt zum Grimmweg. »Julia, überleg es dir noch einmal. Du kannst eine Menge Porzellan zerschlagen, wenn du Gerber jetzt verdächtigst. Es gibt in Okriftel bestimmt ein Dutzend Männer zwischen fünfundzwanzigund fünfzig, die Andreas heißen und eine nette, hübsche Frau haben. Und außerdem, wer sagt uns denn, dass unser Mann aus Okriftel kommt?«
»Ich verspreche dir, deinen lieben Doktor mit Samthandschuhen anzufassen. Wir gehen jetzt hin, ich werde so tun, als wäre ich krank, und dann stelle ich ihm erst mal ein paar ganz unverfängliche Fragen. Und allmählich steigere ich das Ganze. Bist du jetzt beruhigt?«
»Nee, denn bei dir weiß man nie«, brummte er mürrisch. »Und jetzt komm, sonst wird es immer später, und ich will irgendwann auch mal Feierabend machen.«
Sie liefen etwa vierzig Meter, bis sie vor dem Haus standen. Ein kurzes Drücken der Klingel, sie hörten Schritte näher kommen.
»Guten Abend«, sagte Gerber überrascht, »was verschafft mir die Ehre?«
»Meiner Kollegin …«
»Mir geht es nicht so gut«, fiel Durant Hellmer ins Wort, »und ich dachte, da wir sowieso in der Gegend zu tun haben, schau ich mal bei Ihnen vorbei. Ihre Frau war so freundlich, uns die Adresse zu geben.«
»Ich habe zwar keinen Notdienst, aber bitte, kommen Sie rein. Wo fehlt’s denn?«
»Müde, schlapp, Kopfschmerzen«, sagte Durant, was nicht einmal gelogen war. Sie hatte seit dem Nachmittag mal mehr, mal weniger heftige Stiche in der linken Schläfe, deren Ursache sie jedoch kannte. Stress, Übermüdung, Selinas Verschwinden und Tod, die immer wieder um Kuhn kreisenden Gedanken.
»Gehen wir ins Wohnzimmer. Hat Herr Hellmer Ihnen erzählt, wie ich behandle?«
»Nein.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, geh ich ein bisschen raus auf die Terrasse«, sagte Hellmer.
»Du kannst ruhig hier bleiben, ich habe keine Geheimnisse.«
»Ich möchte trotzdem lieber rausgehen.« Durant sah ihm nach,grinste in sich hinein, ließ es Gerber aber nicht merken. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl in dem Haus, es war eine sehr ruhige, friedliche Atmosphäre. Sie hörte die Stimmen der beiden Töchter, aber auch Stimmen und Musik aus der Nachbarschaft, selbst das durch die offene Terrassentür dröhnende Geräusch startender Flugzeuge störte nicht die starke Ruhe, die sie in diesem Zimmer empfand.
Gerber stellte zwei Stühle der Essgruppe in einem Abstand von etwa fünfzig Zentimetern vor den Tisch.
»Nehmen Sie bitte hier Platz«, forderte er Durant auf. Er selbst setzte sich ihr direkt gegenüber und bat sie, die Beine eng geschlossen zu halten. »Dürfte ich bitte einen Blick in Ihre Hände werfen?«
»Meine Hände?«, fragte sie erstaunt, hielt sie ihm aber hin.
Er lächelte nur, fasste sie vorsichtig an den Fingerspitzen, betrachtete einen Moment die Finger, anschließend drehte er die Hände und warf einen Blick in die Handinnenflächen. »Veränderung und innere Zerrissenheit. Sie möchten aus Ihrer Haut und stehen kurz vor einer Explosion. Wie ein Vulkan, der schläft, unter dessen scheinbar ruhiger Oberfläche es aber brodelt. Sie wollen jedoch unbedingt etwas in Ihrem Leben verändern. Wie es aussieht, hat es mit einem Mann zu tun, von dem Sie sich lösen möchten, Sie haben aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen. Und Sie stecken voller Selbstzweifel. Sie haben oft Kopfschmerzen, aber auch Unterleibsbeschwerden. Ansonsten sind Sie gesund. Ihre Beschwerden sind rein psychosomatischer Natur. Sie müssen nur
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