Kaltes Blut
bisschen früher, ich gehe nämlich davon aus, dass wir morgen ein volles Haus haben werden. Es ist wie immer, wenn ein Unglück einen Ort trifft – erst dann suchen die Leute die Nähe zu Gott. Warum eigentlich nicht früher, das frage ich mich immer wieder. Na ja, sei’s drum, wen habt ihr denn in Verdacht? Oder seid ihr noch nicht so weit, jemanden zu verdächtigen?«
»Mischner«, sagte Emily Gerber leise.
»Mischner?« Er schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht, dazumuss man ein anderes Kaliber sein. Vergewaltigen ja, jemanden umbringen, nein. Mischner ist kein Killer. Außerdem sitzt er doch im Gefängnis.«
»Und wenn er schon wieder frei ist?«
»Ja, was dann? Was würdet ihr denn machen, wenn ihr Mischner auf offener Straße treffen würdet? Würdet ihr ihn auf den bloßen Verdacht hin, er könnte Selina umgebracht haben, lynchen?«
»Du meine Güte«, stieß Achim Kaufmann wütend hervor und zertrat seinen Zigarillo. »Was ist eigentlich heute los mit dir? Bist du gekommen, um uns an den Pranger zu stellen, als wären wir alle potenzielle Mörder?! Keiner von uns würde Selbstjustiz üben, das ist ganz sicher nicht unser Stil und das solltest du eigentlich wissen. Außerdem wissen wir doch gar nicht mal, ob er überhaupt schon aus dem Knast raus ist, und wenn, ob er Selina …«
»Du hast Recht. Ich hab anscheinend wirklich einen schlechten Tag erwischt. Ich muss sowieso weiter. Und wenn ihr wollt, meine Tür steht euch jederzeit offen.«
Sie sahen ihm nach, wie er zu seinem Auto ging und vom Hof fuhr.
»Da geht er hin, mein Brüderlein«, sagte Werner Malkow, woraufhin ihm seine Frau einen giftigen Blick zuwarf, den er mit einem entschuldigenden Lächeln kommentierte.
»Ich muss mich noch um Pallas kümmern und dann nach Hause fahren«, erklärte Emily Gerber. »Die beiden Polizisten kommen um eins.«
»Und warum? Wegen Mischner etwa?« Sonja Kaufmanns Augen blitzten neugierig auf.
»Woher soll ich das wissen«, entgegnete sie kurz angebunden.
»Aber du hast sie doch erst auf Mischner aufmerksam gemacht …«
»Wahrscheinlich wollen sie ein paar Informationen von mir. Mein Gott, wir waren so ziemlich die letzten, die Selina lebend gesehen haben! Wir alle übrigens. Ist das nicht Grund genug? Sie werden sicher auch noch euch befragen.«
»Ist ja gut! Aber mal was anderes. Dieser Hellmer wohnt doch im Sterntalerweg in dem Eckhaus. Wie kann sich ein einfacher Polizist dieses Haus leisten? Das ist mindestens eine Dreiviertelmillion wert.«
»Frag ihn doch, wenn du dich traust, liebste Schwägerin«, erwiderte Emily Gerber schnippisch. »Er ist jedenfalls sehr nett und sehr kompetent, genau wie seine Kollegin, Frau Durant. Nicht wahr, Schatz?« Sie schaute ihren Mann an, der zustimmend nickte.
»Sie sind beide sehr bemüht, den Täter so schnell wie möglich zu finden. Wir hatten gestern ein sehr langes Gespräch mit ihnen.«
»Ach ja«, sagte Achim Kaufmann. »Um was ging’s denn, wenn ich fragen darf?«
»Du darfst fragen. Aber wie schon gesagt, sie werden euch auch noch beehren.«
Die Stimmung war auf dem Nullpunkt angelangt. Emily Gerber verließ die Gruppe und ging in den Stall zu ihrem Pferd, einem prächtigen Wallach, der seinen Kopf in ihre Richtung drehte und mit dem rechten Huf aufgeregt über den Boden schabte, sobald sie den Stall betrat. Sie stellte sich vor ihn, streichelte ihm über den Kopf und legte ihren an seinen Hals. Sie war müde und fühlte sich ausgebrannt, dazu kam das in ihren Augen dumme Gerede der anderen. Und Christian Malkow hatte vermutlich sogar Recht, wenn er sagte, dass es, sollte einer von ihnen Mischner auf der Straße treffen, wohl um ihn geschehen wäre.
»Weißt du, wer Selina das angetan hat?«, fragte sie leise Pallas, der auf das Flüstern hin die Ohren spitzte und scheinbar nickte. Emily Gerber klopfte ihm sachte auf den Rücken. »Du weißt es, stimmt’s? Du weißt sicher mehr als wir alle. Es wäre schön, wenn du sprechen könntest. Aber so …« Sie zuckte mit den Schultern, gab Pallas ein Stück Zucker, sah ihn an und meinte einen traurigen Blick in seinen Augen zu erkennen. »Ich geh dann mal wieder. Heute Nachmittag komm ich dich aber noch einmal besuchen. Bis dann, mein Alter.«
»Meine kleine Schwester ist ziemlich gereizt, was?«, sagte Achim Kaufmann.
»Achim, bitte, wir sind alle gereizt«, erwiderte Andreas Gerber und legte einen Arm um ihn, »du doch auch, wenn du ehrlich bist. Und Emily geht die Sache eben besonders an die
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