Kaltes Blut
wieder nach Hause fahren. Ich habe meine Arbeit getan, jetzt sind Sie dran.«
»Tschuldigung«, sagte Hellmer und hob die Hände, »wir sind schon weg. Und vielen Dank. Das Foto dürfen wir doch behalten?«
»In Gottes Namen, ja, aber verschwinden Sie bitte, und melden Sie sich frühestens am Montag wieder. Morbs hat am Wochenende Bereitschaft, ich bin nur hier, weil ich das Mädel seziert habe.«
»Schönes Wochenende.« Auf dem Weg zum Auto sagte Hellmer: »Also, wenn er ihr nicht bewusst wehtun wollte … Ja, was wollte er dann?«
»Keine Ahnung. Es könnte aber auch sein, dass er sie einfach nicht leiden sehen wollte oder es nicht erträgt, wenn jemand leidet. Deshalb auch die Binde über den Augen. Und über den Mund hat er ihr ein Klebeband geklebt, damit sie nicht schreit.«
»Und was bedeutet das? Ich meine, das mit den Augen.«
»Vielleicht hatte er Angst, dass sie ihn dabei ansieht, ein Zustand, den er nicht ertragen hätte.«
»Warum nicht?«
»Verklemmt?«
»Könnte sein. Komplexe?«
»Auch möglich.«
»Dazu kommt, dass er sich nicht sexuell an ihr vergangen hat. Gerber hat zugegeben, mit ihr in jener Nacht geschlafen zu haben, und Bock hat auch nur Sperma von einer Person festgestellt. Und unser Mann hat den ganzen Körper gewaschen. Aber er hat sie fast vierundzwanzig Stunden gefangen gehalten. Wo? Wo kann man jemanden über einen so langen Zeitraum gefangen halten, ohne dass es bemerkt wird? Es muss ein Raum sein, wo er ziemlich ungestört seinem Tun nachgehen konnte …«
»Aber nicht ungestört genug, denn sonst hätte er ihr nicht den Mund zu verkleben brauchen.«
»Also, mit was für einer Persönlichkeit haben wir es zu tun?«
»Frank, wir könnten jetzt stundenlang darüber diskutieren, wie der Typ beschaffen ist. Aber wir sind keine Psychologen. Wir brauchen ein Täterprofil. Und wer kommt dafür in Frage?«
»Richter?«
»Der Kandidat hat neunundneunzig Punkte. Dass jemand seinem Opfer mit einem Messer oder Stilett Flügel auf den Oberkörper zeichnet, könnte auf einen religiösen Fanatiker hindeuten. Oder einen, der völlig durchgeknallt ist und meint, der Welt eine Botschaft übermitteln zu müssen. Weiter komme ich aber nicht. Auf, fahr los, soll die Gerber uns mal was über Mischner erzählen. Außerdem brauchen wir Einsicht in das komplette psychologische Gutachten. Das müsste doch heute noch irgendwie aufzutreiben sein. Ich frag mal im Büro nach, ob in der Richtung schon was unternommen wurde.«
Sie fuhren am Schwanheimer Ufer entlang, die Seitenfenster geöffnet. Die Sonne stand im Zenit, der Wetterbericht kündigte für die kommenden Tage Temperaturen von über dreißig Grad an. Durant und Hellmer hingen ihren Gedanken nach, bis Hellmer fragte: »Was ist eigentlich mit Dominik? Hast du das gestern wirklich ernst gemeint?«
»Er ist ausgezogen«, kam es wie selbstverständlich über ihre Lippen.
»Was, so schnell? Wie kommt’s?«
»Besser schnell als langsam und mit viel Tränen. Ich hab ihn vor die Tür gesetzt. Er ist jetzt wieder in seiner Wohnung.«
»Du musst wissen, was du tust. Ich finde, ihr habt ein tolles Paar abgegeben.«
»So toll wie die Gerbers?«, fragte sie spöttisch zurück. »Die haben nach außen hin auch die heile Welt gespielt und dann … Nee, das ist nicht mein Ding. Dominik ist nett, er kann charmant sein, aber nur, wenn er will. In den letzten Monaten haben wir uns doch kaum noch gesehen. Selbst wenn ich normal Dienst geschoben habe und er mir gesagt hat, er würde um acht zu Hause sein, kamer meistens erst um zehn oder elf oder gar nicht. Und irgendwann resignierst du und hast die Schnauze voll. Bei mir passiert so was halt schneller, ich bin eben ein gebranntes Kind.«
»Und wie fühlst du dich jetzt?«
»Frag mich das in einer Woche. Ich will im Augenblick auch nicht darüber reden. Außerdem gibt es im Moment Wichtigeres als mein beschissenes Privatleben.«
»Jetzt stürzt du dich wieder in die Arbeit, aber was ist, wenn der Fall abgeschlossen ist?«
»Was soll dann sein? Ich komme klar. Im Moment fühl ich mich frei, ob das in einer Woche noch so ist, weiß der Himmel. Und jetzt lass uns zu den Gerbers gehen, oder willst du noch lange hier parken?«
»Bleiben wir hier im Wohnzimmer, Celeste und Pauline spielen draußen und müssen nicht unbedingt alles mithören«, sagte Emily Gerber, die eine Jeans, eine grüne Bluse und weiße Leinenschuhe anhatte. »Mein Mann ist bei Selinas Eltern, Peter geht es überhaupt nicht
Weitere Kostenlose Bücher