Kaltes Blut
irgendwer von irgendwem aus einer Laune heraus wegen ein paar Euro ermordet wurde. Ich würde diesem Mischner jedenfalls alles zutrauen, vor allem nach dem, was er mit Silvia gemacht hat.«
»Helena, er hat Selina zuletzt vor zweieinhalb oder drei Jahren gesehen. Das ist eine halbe Ewigkeit her, und Selina war damals zwölf oder dreizehn«, meinte Werner Malkow beschwichtigend, schaute seiner Frau über die Schulter und fuhr fort: »Da kommt Christian. Mal sehen, was mein Bruderherz dazu zu sagen hat.«
»Hi. Dachte ich mir doch, dass ich euch hier finden würde.« Christian Malkow war ein groß gewachsener, hagerer Mann mit leicht nach vorne hängenden Schultern, lichtem, grauem Haar und freundlich und neugierig dreinblickenden blauen Augen. Er trug eine Jeans, ein T-Shirt und Turnschuhe, und nichts an seinem Äußeren ließ darauf schließen, dass er Pastor war. Er war neun Jahre älter als sein Bruder und bemühte sich redlich, die einst am Sonntag leere Kirche wieder mit Gläubigen zu füllen, was nicht zuletzt an seiner bisweilen unkonventionellen Art lag, das Evangelium zu interpretieren. Und allmählich schienen seine Bemühungen Früchte zu tragen. Die Alteingesessenen hatten anfangs Schwierigkeiten mit seiner lässigen Art gehabt, zu der Jugend undden Junggebliebenen jedoch bestand von Beginn an ein besonderer Draht. Er sprach in seinen Predigten über die Probleme der Welt, hielt sich häufig nicht so sehr an das geschriebene Wort der Bibel, sondern versuchte, auch zwischen den Zeilen zu lesen, und war bisweilen etwas zynisch. Er engagierte sich für die sozial Schwachen und von der Gesellschaft Ausgestoßenen und wies auch jene nicht ab, von denen jeder wusste, dass sie Alkoholiker oder drogenabhängig waren, gab ihnen Beistand und, wenn nötig, auch etwas zu essen und zu trinken. Christian Malkow war verheiratet, hatte drei Kinder, von denen die beiden ältesten das Haus bereits verlassen hatten, nur die sechzehnjährige Tochter Annette wohnte noch bei den Eltern. Sie ging noch zur Schule und würde ab dem kommenden Schuljahr die Oberstufe des Gymnasiums besuchen. Er stand jetzt neben Andreas Gerber, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband, die Hände in den Hosentaschen, und schaute in die Runde.
Einen kurzen Moment musterte er seinen Neffen Thomas, der scheinbar gedankenverloren dastand, die Hände ebenfalls in den Hosentaschen vergraben, ein gut aussehender junger Mann, der aber weder mit sich noch der Welt im Reinen schien. Immer öfter hatte Christian Malkow das Gefühl, als wäre in ihm ein großer Zorn gegen alles und jeden, auch gegen sich selbst, wenn er mit gesenktem Kopf und schnellen Schritten an anderen vorbeiging, ohne sie zu beachten, oder besser, um sie bewusst zu ignorieren. Er war oft, zu oft mit sich allein beschäftigt, erging sich in Grübeleien und Gedankenspielereien, die er nie oder nur selten nach außen ließ.
Christian Malkow hatte Angst um ihn, wobei die Angst nicht definierbar war. Aber er hatte noch nie einen derart intelligenten und zugleich so zornigen jungen Mann erlebt. Thomas war neunzehn, hatte bisher noch keine feste Freundin gehabt, war stets Außenseiter, eine Rolle, die ihm offensichtlich immer mehr gefiel oder in die er sich zunehmend hineinsteigerte, aber hinter die Stirn von Thomas zu blicken gelang auch ihm nicht, obgleich ihn schon interessiert hätte, was dort vorging. Doch trotz all seines in ihm aufgestautenZorns kam Thomas jeden Sonntag mit seinen Eltern, manchmal auch nur mit seinem Vater in die Kirche. Er war bibelfest, und wenn er einen guten Moment hatte, konnte man sich mit ihm sogar in richtig guten Diskussionen aufreiben. Doch diese Momente waren selten, und eigentlich wusste Christian Malkow nichts über Thomas, außer dass seine persönlichen Konflikte mit dem Elternhaus zu tun hatten.
»Lasst mich raten, worüber ihr euch unterhaltet – Selina Kautz.«
»Jawohl, Herr Pastor«, erwiderte Achim Kaufmann mit gespielt devoter Verbeugung, »worüber auch sonst. Wie ist denn deine werte Meinung dazu?«
»Muss ich eine haben? Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen«, antwortete er lapidar mit hochgezogenen Brauen.
»Du bist ein Zyniker«, sagte Helena Malkow verständnislos. »Lass das mal lieber nicht Selinas Eltern hören.«
»Ach kommt, was hat das mit Zynismus zu tun?! Gar nichts. Ich bin zwar kein Heiliger, aber ich bin Realist. Wir leben in einer verkommenen, heuchlerischen Welt. Klar, wenn hier bei uns jemand umgebracht
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