Kaltes Fleisch. Ein Mira-Valensky-Krimi
niedrig, darüber hatte sich van der Fluh mir gegenüber beklagt, also wurde sie etwas ausgedehnt.
Aber warum war Karin verschwunden, und wer hatte Regionaldirektor Sascha Heller ermordet? Van der Fluh? Der von nichts etwas zu wissen vorgab, was seine Hilfsdirektoren anstellten? Er hatte einen guten Vertrag, ging es mit Ultrakauf bergab, dann nahm er eben den nächsten Managementjob in Deutschland. Allerdings: Vielleicht war das gar nicht so einfach.
Es musste zumindest einige Menschen geben, die in der Kauf-AG vom aufgetauten Fleisch wussten. Die Einkäufer, die Leute in der Finanzabteilung, die die Käufe in die Bilanz aufnahmen, oder, was wahrscheinlicher war, diese fälschten. Die Leute, die das Fleisch transportierten und auftauten. Konnte man sie alle ruhig stellen? Etwas Geld, Angst vor dem Jobverlust und das weit verbreitete Bedürfnis nach Harmonie halfen wohl. Aber war das genug? Immerhin: Es gab auch nach wie vor keine Beweise, dass jemals Fleisch und Würste gewaschen und umgepackt worden waren. Trotzdem geschah es.
Ich konnte mit den Ergebnissen der Proben und den kategorisiert verwahrten Verpackungen nun endlich daran denken, meine Reportage zu schreiben. Dieser Story würde der Chefredakteur zustimmen. Ein Fleischskandal kurz vor Weihnachten war etwas, auf das auch die Konkurrenzmedien reagieren würden. Eine Exklusivgeschichte des »Magazins« – das würde selbst die Geschäftsführung überzeugen. Möglicherweise.
Was aber, wenn Ultrakauf alles abstritt und mir vorwarf, die Proben getürkt und das Fleisch selbst eingefroren zu haben? Ich war schon eine Zeit lang hinter dem Unternehmen her, die findigen Typen in der Marketingabteilung konnten mir Verfolgungswahn vorwerfen. Vielleicht wäre es sehr rasch möglich, die Zulieferung von gefrorenem Rindfleisch zu stoppen, und wenn dann Lebensmittelinspektorat, Marktbehörde und Kriminalpolizei kamen, war alles wieder in bester Ordnung. Ich hatte die ersten Beweise. Aber ich brauchte mehr. Ich musste wissen, woher das aufgetaute Fleisch kam, wer von der Aktion wusste, wie es geliefert wurde. Morgen.
Ich schlief schlecht, hatte wilde, im wachen Zustand nicht nachvollziehbare Träume, in denen Oskar, sprechende halbe Rinder und Tango tanzende Tanten eine Rolle spielten. Die rote Karin ließ sich von van der Fluh die Fingernägel polieren, bis sie blutete. Ich schreckte aus dem Schlaf auf. Mein Herz klopfte laut. Vor einem Jahr hatte ich in der Nacht regelrechte Panikattacken gehabt. Jetzt wartete ich besorgt, ob es wieder so weit wäre. Nein, der Herzschlag beruhigte sich langsam, und bevor ich noch mit dem Nachdenken beginnen konnte, schlief ich wieder ein.
Ich hatte den Wecker auf halb acht gestellt. Fürchterlich früh, vor allem im Winter. Draußen war es noch beinahe finster. Einer der Vorteile meines Berufes war es, dass ich meistens lange schlafen konnte. Aber heute wollte ich so schnell wie möglich ins Labor, um mit der Lebensmittelchemikerin zu reden und zu überprüfen, welche unserer siebenundachtzig Proben gefroren gewesen waren.
Gismo drehte sich empört auf die andere Seite. Ich duschte schnell, nahm mir Jeans, ein langärmliges T-Shirt, ein bequemes Wollstoffsakko und trank rasch einen doppelten Espresso.
Ich wollte gerade die Eingangstür abschließen, als das Telefon läutete. Gehetzt stellte ich die Tasche mit meinem Laptop ab, lief zurück ins Vorzimmer und hob ab. »Ja?«
»Sehen wir uns heute?« Es war Oskar.
»Ich hoffe. Ich weiß nur noch nicht, wann und wo. Stell dir vor, ein Teil der Fleischproben stammt von aufgetautem Rindfleisch. Offenbar haben die Herren bei der Kauf-AG schlechteres Fleisch dazugeschmuggelt. Erhöht die Gewinnspanne, freut die Aktionäre und all so was. Ich bin gerade auf dem Weg zur Lebensmittelchemikerin.«
»Ach«, sagte Oskar nur.
»Ich hab es eilig, ich melde mich.«
Erst auf dem Weg zum Auto dämmerte mir, dass er sich unser Versöhnungstelefonat wohl anders vorgestellt hatte. Ich würde ihn später anrufen. Der Streit war lächerlich gewesen. Wir würden einen Kompromiss finden.
Gemeinsam mit der Lebensmittelchemikerin ging ich die Liste mit den Proben durch. Sie zeigte mir, wie man im Mikroskop einfach erkennen konnte, ob das Fleisch frisch oder aufgetaut war: Die Zellwände waren bei den einen Proben intakt, bei den anderen durchbrochen, zerstört, die Struktur sah aus wie nach einem Mikro-Bombenanschlag. Dafür erzählte ich ihr, worum es bei der ganzen Analyse eigentlich ging. Die
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