Kaltes Gift
ihrem
schlampigen, bohemienhaften Äußeren eingeschätzt hatte.
Die übrigen Besucher waren Touristen gewesen, die ihre
Autofahrten für eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen unterbrachen oder
vor dem Regen Schutz suchten, der sie beim Spaziergang überrascht
hatte. Die hielten sich dann etwa eine Stunde in der Scheune auf,
gingen planlos umher und verschwanden wieder, nahmen aus Gefälligkeit
ein paar Postkarten mit und hinterließen den Dunst von feuchten
Kleidern und Zigarettenrauch.
Und an jedem einzelnen der fünf Tage, die sie im Kunst- und
Antiquitäten-Center zugebracht hatte, war ihr Jasper verhasster
geworden als am Tag zuvor.
Jasper war Eunices Ein und Alles. Er war ein kleiner, bissiger
Hund undefinierbarer Rasse, und er konnte Daisy nicht ausstehen. Er
knurrte sie an, folgte ihr unablässig durch die Scheune und starrte sie
mit übergroßen, boshaft glitzernden Augen an. Und er roch wie alte
Schmutzwäsche. Seine Miene schien zu sagen: »Ich weiß, wer du bist,
altes Weib. Sie kannst du täuschen, aber mich kannst du nicht täuschen.«
Daisy hatte beschlossen, Jasper so bald wie irgend möglich um
die Ecke zu bringen. Eunice konnte warten – Daisy musste
vorher noch so viel Information über ihr vergangenes Leben aus ihr
herausquetschen, wie sie irgend konnte –, aber dieser Hund
musste weg. Betrachten wir es als Testlauf, sagte sie sich. Ein
Testlauf, um ein Gift auszuprobieren, mit dem sie seit einiger Zeit
liebäugelte, es aber noch nie benutzt hatte.
An jedem Tag der Woche, die sie im Kunst- und
Antiquitäten-Center zubrachte, hatte Daisy eine Tüte Aprikosen für sich
und Eunice mitgebracht. Unter dem Vorwand, aufzuräumen, hatte sie alle
Aprikosenkerne gesammelt, nachdem die Früchte aufgegessen waren, hatte
sie jeden Abend mit nach Hause genommen und auf dem Fensterbrett in der
Küche zum Trocknen ausgebreitet. Am fünften Abend nahm sie eine
Käseraspel, die sie auf dem Heimweg in einem kleinen Küchenladen in
Leyston gekauft hatte, und rieb behutsam an der Außenschale der Kerne,
bis sie auf einem Stück Küchenpapier einen Haufen grauen Pulvers
aufgehäuft hatte. Wenn sie recht hatte, dann enthielt das graue Pulver
eine tödliche Dosis Blausäure, doch sie hatte noch nie Aprikosenkerne
benutzt, und sie fürchtete, die Dosis falsch eingeschätzt zu haben.
Möglich, dass die Aprikosen einen bestimmten Reifegrad erreicht haben
mussten, bevor man das Gift gewinnen konnte, oder womöglich mussten die
Kerne erhitzt werden, ehe man sie rieb. Zum Glück würde Jasper als
Testkandidat agieren. Sie würde ihm jeden Tag ein wenig davon über sein
Futter streuen und genau registrieren, wie er reagierte. Wenn er
starb – falls er starb –, dann
brauchte Daisy nichts weiter zu tun, als die Dosis, die sie eingesetzt
hatte, in Hinblick auf Eunices Gewicht zu multiplizieren und diese dann
in einen Auflauf oder Ähnliches zu mischen. Vielleicht eine
Aprikosen-Krümeltorte? Schließlich wäre es ja eine Schande, die
Früchte, die sie dafür kaufen musste, zu vergeuden.
Am sechsten Tag machte Daisy eine Pause. Sie brauchte Zeit, um
ihre nächsten Schritte zu überdenken, doch noch mehr als das wollte
sie, dass Eunice merkte, wie leer ihr Leben war, wenn Daisy nicht da
war. Mit der Entschuldigung, sie müsse an den Entwürfen für die
Broschüren des Centers arbeiten, blieb sie zu Hause. Doch ehe sie die
Scheune verließ, stellte sie die Ruftonlautstärke an Eunices Telefon
auf Null. So konnte Eunice zwar problemlos selbst telefonieren, aber
wenn irgendjemand versuchte, bei ihr anzurufen, würde Eunice das
Telefon nicht hören können. Das war simpel, doch es würde bewirken,
dass Eunice sich umso isolierter fühlte, verlassen von ihren wenigen
verbliebenen Kontaktpersonen. Und wenn Eunice sich nie meldete, dann
würden die Leute nach ein paar Wochen aufhören anzurufen. So einfach
war das. Perfekt.
Am nächsten Tag kehrte Daisy zur Scheune zurück. Eunice war
überglücklich, sie zu sehen.
»Meine Liebe«, sagte sie, »Sie haben keine Ahnung, wie
langweilig es hier ist. Ich bin schier gaga geworden. Dem Himmel sei
Dank, dass ich Jasper zur Gesellschaft habe.«
»Ach, übrigens«, sagte Daisy, »ich habe etwas für Jasper
mitgebracht. Ich hab mir nämlich gestern ein Hähnchen zum Essen
gebraten, und da dachte ich, ihm schmecken vielleicht die Reste. Ist
das in Ordnung?«
»Ach, Sie sind so aufmerksam«, sagte Eunice, während Jasper
sie von dem Platz neben seiner Herrin aus nur misstrauisch
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