Kaltes Gift
Lapslie,
während Dr. Catherall sich erschöpft und gründlich die Hände wusch.
»Fangen wir mit dem Grad der Verwesung an«, erwiderte sie.
»Der Leichnam ist in bemerkenswert gutem Zustand, wenn man bedenkt, wo
er gefunden wurde. Die Plastikfolie, in die er eingewickelt war, hat so
etwas wie ein sauerstofffreies Umfeld erzeugt, das die Verwesung
verlangsamt und fast alle Aasfresser ferngehalten hat, bis auf die
aggressivsten oder« – sie deutete auf die kleinen Kadaver auf
dem nächsten Tisch – »die kleinsten. Wenn man den Zustand der
Haut und des Fleisches und die Auswirkungen der Umgebung in Betracht
zieht, würde ich schätzen, dass sie etwa seit sieben bis zehn Monaten
tot ist.«
»Ungefähr das hatten wir auch gedacht«, meldete sich Emma zu
Wort.
Dr. Catherall rümpfte die Nase. »Manchmal bestätigt die
Pathologie eben eher das Offensichtliche, als dass sie Kaninchen aus
dem Hut zaubert. Was die Dichte und die Porosität der Knochen betrifft,
so würde ich sie in der Nähe ihres Lebensendes einordnen, irgendwo
zwischen siebzig und achtzig. Das wird auch durch die fortgeschrittene
Arthritis in ihren Gelenken bestätigt. Ihre Lunge ist durch Rheuma im
Kindesalter geschädigt, und sie hat im Laufe ihres Lebens an
verschiedenen Krankheiten gelitten – Rachitis, ein paar kleine
Hautmelanome und so weiter –, aber keine davon hat sie
umgebracht. Außerdem war sie meiner Einschätzung nach etliche Jahre
lang leicht unterernährt, aber auch das hat nicht zum Tod geführt.«
»Was war es dann?«, fragte Lapslie.
»Darauf komme ich gleich.« Sie beugte sich vor und zeigte auf
eine runzlige Narbe am Hals der Leiche, in der Kuhle über dem
Brustbein. »Diese Narbe deutet auf die Einführung einer Atemkanüle hin,
irgendwann in einem frühen Stadium ihres Lebens. Ohne ihre Krankenakte
einsehen zu können, ist es schwer zu beurteilen, aber ich möchte
wetten, dass das die Folge von Diphtherie im Kindesalter ist.« Sie
schwieg eine Weile und betrachtete den Leichnam. »Die Hüftgelenke sind
verschlissen, es sind aber ihre eigenen Gelenke, keine künstlichen.
Abgesehen von normalen Verschleißerscheinungen des hohen Alters gibt es
keine altersbedingten Befunde, die den Tod verursacht haben
könnten – kein Tumor, kein Anzeichen eines Schlaganfalls. Und
soweit ich das so spät nach ihrem Tod sagen kann: Sie hatte ein Herz
wie ein Pferd. Überhaupt, wenn ich ihre Ärztin wäre, und sie wäre noch
am Leben, dann würde ich sagen, die hat noch ein paar Jahre. Jedenfalls
ist sie nicht an den Symptomen gestorben, die wir unter dem
Sammelbegriff ›Altersschwäche‹ bündeln.«
»An was …«
»Dazu komme ich jetzt.« Dr. Catherall rieb sich nachdenklich
mit einer Hand das Kinn. »Entkräftung kann nicht vollständig
ausgeschlossen werden. Der Gewebeverfall schließt den genauen Nachweis
eines Schocks oder Kreislaufkollapses aus, aber aus Gründen, die ich
gleich erklären werde, glaube ich nicht, dass Entkräftung
wahrscheinlich ist – jedenfalls nicht als primäre
Todesursache. Natürlich kann sie dazu beigetragen haben.«
»Natürlich«, brummte Lapslie. Dr. Catherall machte den
Eindruck, als habe sie ihre kleine Rede entweder schon während der
gesamten Obduktion eingeübt oder strukturiere ihre Gedanken noch
während des Sprechens penibel bis in jeden Nebensatz und jeden
Konjunktiv.
»Der langen Rede kurzer Sinn«, sagte sie, als sie Lapslies
Blick sah, »Sie selbst haben wahrscheinlich bemerkt, als Sie gestern
die Leiche inspiziert haben, dass hinten am Schädel eine Verletzung
vorliegt. Die ist nicht unfallbedingt. Ich würde sagen, dass ihr kurz
vor ihrem Tod ein oder zwei Schläge mit einem stumpfen Gegenstand
versetzt worden sind.«
»Am Tatort ist nichts gefunden worden«, murmelte Emma neben
Lapslie.
»Sonst noch irgendwelche Verletzungen an der Leiche?«, wollte
Lapslie wissen.
»Keine Stichwunden, keine Frakturen, wenn Sie das meinen.«
Lapslie runzelte die Stirn. »Ich dachte mehr an die Finger.«
Dr. Catherall nickte bedächtig. »Merkwürdige Sache, das. Die
Finger der rechten Hand scheinen mit einem scharfen Gegenstand
abgetrennt worden zu sein. Ich muss noch weitere Tests machen, um zu
bestimmen, ob sie abgesägt, abgeschnitten oder abgebissen worden sind,
auf jeden Fall fehlen sie, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das
nach dem Tode geschehen ist. Chirurgisch wurden sie bestimmt nicht
entfernt – es wurde keinerlei Versuch gemacht, die Wunden zu
schließen.«
»Und die
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