Kaltes Grab
Verhalten darauf zurückführen? Es wäre nur verständlich. Aber sie glaubte nicht, dass es daran lag – obwohl die Enttäuschung, bei der Beförderung, mit der er fest gerechnet hatte, übergangen worden zu sein, der Grund für das gewesen sein mochte, was er ihrer Meinung nach kurz darauf getan hatte. Sie war sich fast sicher, dass er Beweismaterial unterschlagen hatte, zumindest hatte er einen Verdacht nicht weitergegeben, und zwar aus falsch verstandener Loyalität.
Fry berührte die Narbe auf ihrem Gesicht, die verheilt, aber noch nicht verblasst war. Sie hatte keine Beweise für ihre Vermutung, und genau da lag das Problem. Es gab keinen handfesten Beweis. Unbegründete Anschuldigungen gegen einen Kollegen schadeten ihrer Karriere mit Sicherheit ebenso wie alles andere, was sie unternehmen konnte. Insbesondere, wenn sie sich gegen den Liebling des Hauses richteten, jenen Kollegen, der schon sein Leben lang in Eden Valley wohnte und alles und jeden kannte. Solange sie sich ihrer Sache nicht absolut sicher war, ging der Schuss garantiert nach hinten los, wenn sie Stimmung gegen Kollegen machte. Vor allem dann, wenn einer von ihnen im Dienst ums Leben gekommen war.
Sie wusste, dass nichts dem Verhältnis zu ihren Kollegen abträglicher sein konnte. Schon jetzt konnte sie sich vorstellen, wie ihr die anderen Beamten auf dem Korridor auswichen, wie sich die Stimmung in der Führungsebene abkühlte und man sie nach und nach ins Abseits drängte. Bis sie es endlich verstanden hatte und entweder dorthin zurückging, wo sie hergekommen war, in die West Midlands, oder sich gleich ganz aus dem Polizeidienst verabschiedete – wohl wissend, dass es niemanden interessierte, welche Entscheidung sie letztendlich traf.
Als sie daran dachte, wie Ben Cooper heute bei Dienstschluss ausgesehen hatte, verfinsterte sich ihre Miene. Er hatte wieder den lächerlichen Wachsmantel mit den langen Schößen getragen, der diese riesige Innentasche besaß, die er immer als seine Wilderertasche bezeichnete. Der Mantel war dunkelgrün, als wollte er sich damit tarnen. Was ihm im Schnee nicht viel nutzte, da ihn die Farbe für jeden Wildhüter mit einer Schrotflinte zu einem hervorragenden Ziel machte. Aber irgendwie sah er mit dem Mantel aus, als gehörte er ganz und gar hierher – ein Mann, der mit sich und seinem Platz auf der Welt zufrieden war. Und dazu noch diese Tweedmütze, unter deren Schirm man seine Augen kaum sehen konnte!
Fry schüttelte sich. Sie konnte sich bei niemandem über Ben Cooper erkundigen. Vielleicht war ihre Sicht auf ihn ein wenig verzerrt oder ihre Antennen durch die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Problemen abgestumpft. Eins war jedoch sicher: Cooper zog seine Kreise irgendwo jenseits ihres Radarsystems. Aber wenn er seinen Fuß auch nur einen Millimeter danebensetzte, geriet er unweigerlich wieder in ihr Visier. Vielleicht schon morgen.
5
A m nächsten Tag hatte der Himmel aufgeklart. Der Nachtfrost hatte den Schnee auf dem Moor mit Glitzer überzogen, und die Luft knisterte, als wäre sie statisch aufgeladen.
Ben Cooper stolperte seufzend in seinem Zimmer hin und her, fest entschlossen, das Frühstück heute nicht ausfallen zu lassen. Als Erstes stand dieser Termin mit der Kanadierin an, den der Chief Superintendent angesetzt hatte. Er hoffte, dass die Angelegenheit möglichst rasch über die Bühne war. Den Berichten des Nachrichtenoffiziers hatte er entnommen, dass es nicht einmal um einen ungeklärten Fall ging, den die Polizei in Derbyshire noch einmal aufgerollt haben wollte. Das Ganze war überhaupt kein Fall.
Wahrscheinlich war es nur wieder mal jemand, der von der Vergangenheit und seiner Familiengeschichte fasziniert war und unnötigen Wirbel verursachte. Chief Superintendent Jepson würde die Kanadierin so rasch wie möglich wieder hinauskomplimentieren.
Wie auch immer, sie war sowieso unwichtig. Im Augenblick konnte sich Cooper, der noch immer nicht ganz wach war, nicht einmal mehr an den Namen der Frau erinnern.
Alison Morrissey hatte sich Frank Baine zur Unterstützung mitgebracht. Baine stellte sich als freier Journalist vor, der die örtliche Geschichte der Royal Air Force und den Hintergrund der Flugzeugwracks, die überall im Peak District herumlagen, recherchiert hatte, und erzählte irgendetwas von einem noch nicht veröffentlichten Buch. Außerdem war er bereits seit Wochen im Auftrag der Kanadierin als Verbindungsmann mit der Polizei aufgetreten, hatte um Informationen
Weitere Kostenlose Bücher