Kaltgeschminkt (German Edition)
langen, glatten Strähnen in die schmerzenden Augen. Schneeweiß, mit silbrigem Glanz darin. Einen Moment erscheint es mir wie das Schönste auf dieser elenden Welt, bis mir wieder klar wird, dass es ja Schuld trägt an meiner Misere. Dass es mit seiner Schönheit und Reinheit meinen Frieden zerstörte. Und den meines Volkes, welches so lange angesehen und gefürchtet gleichermaßen gewesen ist. Zu lange, wie es nun scheint. Der menschliche Geist hingegen baut ab, verroht, kehrt zurück zu den Ursprüngen, wenn man ihn nur lange genug sich selbst überlässt.
Man sollte meinen, meine Landsleute würden Elfen und Feenwesen in ihrer Welt willkommen heißen oder wenigstens ohne Aufhebens zu machen dulden. Das habe ich gelernt nach jener Begegnung. Doch nun jagen sie, was sie einst verehrten und was sie nun mit einem mal nicht mehr verstehen können. Wie das? Wenn ich das wüsste, würde ich hier nicht um mein Leben rennen müssen. Ich wäre zu Hause, bei meinesgleichen, meiner sturen Familie. Aber sicher. Und behütet. Seit Jahrhunderten schon entstehen wir auf immer dieselbe Art.
Eine junge Mutter schüttet ihr Herz voller Liebe über ihrem stinkenden, kotzenden und scheinbar bis in alle Ewigkeit plärrendem Balg aus, bevor sie den Raum zum ersten Mal verlässt und es allein in seine Träume entschwindet. Und fort für immer. Noch während das Nachtlicht Hexen auf ihren Besen über die bunten Wände flattern lässt, Meerjungfrauen mit ihren unheimlichen, überlangen Fischschwänzen sich um die Zimmerecken schlängeln und sich der Rattenfänger aus der norddeutschen Sage zu einem ebenso grotesken Zerrbild fließt wie die ihm folgenden monströsen Ratten mit den langen Zähnen. Noch währenddessen kommen sie und holen sich das Kind. Heben es aus seinem warmen Bettchen und wiegen es in Zauber und Vergessen, das über die nächsten Nächte zunehmen wird. Stattdessen legen sie eines ihrer eigenen Sprösslinge in die Wiege, ein feingliedriges Ding mit viel zu ausgeprägtem Gesichtchen. Es wird über die Nacht die unfertigen Züge des speckigen Menschen annehmen, so dass sogar der Mutter selbst der Austausch niemals auffallen wird. Sie wird sich freuen über ein Kindchen, das über Nacht so brav und still geworden zu sein scheint – und so sittsam sich entwickeln wird. Unnatürlich? Nein, ein Segen. Das Menschenbalg hingegen wächst bei uns auf, entwickelt sich zu einer Lhiannon Sidhe oder Liannan Sidhe , die sehr bald an Blut gewöhnt wird und ein Leben ohne dieses Elixier niemals misst. Erkennt und erlernt die Vorzüge, die ein rücksichtsloses Dasein und eine maßlose Unantastbarkeit mit sich bringen werden. Ein Traum, nicht? Du sagst, nur, wenn man völlig egoistisch leben kann ? Nun, eine andere Option stand von Beginn an niemals zu Debatte. Lernt die Hyäne das stinkende Aas zu hassen, in welchem sie genüsslich ihr gieriges, ewig grinsendes Maul verbirgt?
Einen tragischen Nebeneffekt hingegen erleidet das Feenkind, welches in einer Welt aufwächst, die schlicht nicht die seine ist und es auch nie werden wird. Es wird dieses Leben nicht verstehen, sich schutzlos fühlen und stets überfordert. Ewige Angstzustände zwischen Versagen und Ungenügen sind nur ein Teil seines – nun – nennen wir es Lebens, der Einfachheit zuliebe. Dennoch ist es in seinem Herzen immer ein Sidhe . Und wenn es doch einmal jemanden trifft, der es versteht und genau nachempfindet, was es durchmachen muss, wird es ihn Seelenpartner nennen. Und sich vielleicht so lange aufstacheln, bis es zum mehr oder weniger romantischen, aber stets gemeinsamen Selbstmord kommt. Die meisten jedoch landen in einer Anstalt, in der man ihnen Dinge von märchenhaften Modekrankheiten wie Burnout auftischt oder sie in solide Kuscheljäckchen steckt, die sie sich dauerhaft selbst umarmen lassen.
Nun, wie auch immer …
Ich möchte mir diese verräterischen Strähnen einzeln ausreißen, damit sie mich endlich einmal nicht mit ihrem schneeweißen Glanz verraten, damit sie mir endlich ein normales Leben ermöglichen. Leben in Zurückgezogenheit. So wie ich es möchte. Ein solches Leben wollte ich nie, niemals. Doch nun, in Anbetracht der Umstände, hätte ich nicht allzu viel dagegen, anonym und geschützt inmitten meiner Familie zu leben. Ich versuche die wirren Strähnen ein wenig zu ordnen und zusammen zu binden, sie unter der Kapuze des schweren Kleides wieder verschwinden zu lassen. Mit etwas Mühe gelingt es mir auch und ich stopfe sie mit zitternden
Weitere Kostenlose Bücher