Kaltgestellt
gotteslästerlich. Leo sah sich um und ging hinüber zu den Bildern in den goldenen Rahmen. Er nahm eines von der Wand und wunderte sich, wie schwer es war. Um so besser, dachte er. Dann konnte der Haken an der Wand um so mehr Gewicht verkraften. Aus einer Manteltasche nahm Leo eine dünne, kräftige Nylonschnur, die so widerstandsfähig wie Stahldraht war. An einem Ende des Seils befand sich ein bleistiftdünner Griff, am anderen eine stabile Öse. Er bückte sich und band das Ende mit dem Griff zu einer Henkersschlinge, die er der bewußtlosen Frau um den Hals legte. Dann zog er die Schlinge zu, und zerrte die Frau damit bis an die Wand mit dem Bilderhaken. Beidhändig hob er den leblosen Körper hoch, hängte die Öse am anderen Ende des Seils an den Haken und ließ los. Leo hatte die Länge des Seils genau berechnet. Die Frau hing so da, daß die Füße gerade nicht mehr den Boden berührten. In diesem Augenblick kam sie wieder zu Bewußtsein und schlug die Augen auf. Leo trat einen Schritt zurück und sah zu, wie sie mit den Füßen zu strampeln begann und mit den Fersen wie wild gegen die Wand schlug, während sich die Schlinge um ihren Hals immer enger zuzog. Nach einer Weile wurden ihre Bewegungen langsamer und hörten schließlich ganz auf. Bewegungslos hing sie am Haken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie fassungslos ins Leere. Leo hob seinen Stock vom Boden auf, schob ihn zusammen und sicherte den Griff mit einem Gummiband, bevor er ihn in das Spezialhalfter an seinem Gürtel steckte. Dann ging er zur Tür, öffnete sie langsam und blickte hinaus. Auf der Straße war niemand zu sehen. Er rannte die Stufen hinunter und hinaus auf die Hauptstraße. Als er an dem Torbogen angelangt war, blieb er abrupt stehen. Newman kam die Straße hinab auf den Ort zugelaufen. Er stolperte und fiel zu Boden. Leo versteckte sich hinter dem Turm und wartete. Als Newman sich umdrehte und hinauf zum Bahnhof sah, nutzte er die Gelegenheit und eilte an dem Tor vorbei in eine schmale Seitengasse. Hinter diesem Teil von St. Ursanne erhob sich ein Hochplateau, an dessen Rand kahle Laubbäume standen. Auf der Hochebene befand sich der wartende Hubschrauber. Auf dem Hinweg war er über einen Gartenzaun geklettert und an einem offenbar unbewohnten Haus vorbei in den Ort gelangt. Er wußte, daß er nicht denselben Weg zurückgehen durfte, und war froh, als er am Ende der Straße einen Fußweg fand, der in mehreren Kehren hinauf auf das Plateau führte. Bald würde er den Hubschrauber erreicht haben, der ihn zurück nach Basel bringen würde.
26
Der Zug fuhr schon an, als Newman keuchend den Bahnsteig erreichte. Paula, die an der offenen Tür des Waggons auf ihn gewartet hatte, reichte ihm die Hand und zog ihn hinein. Schweißüberströmt ließ sich Newman auf eine Sitzbank sinken. Tweed und Marler saßen ihm gegenüber, während Butler und Nield auf einer Bank jenseits des Gangs Platz genommen hatten. Ein weiteres Mal hatten sie einen ganzen Waggon für sich allein. Als Newman wieder halbwegs normal atmen konnte, trocknete er sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gerannt und schon gar nicht bergauf. Jetzt starrten ihn alle an, was Newman überhaupt nicht gefiel. Er wäre viel lieber allein gewesen. Paula war die Erste, die ihn ansprach.
»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Handschuhe wieder«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
Newman blickte hinab auf seine rechte Hand, in der er noch immer die Autofahrerhandschuhe hielt. Er hatte das Gefühl, als ob er eigentlich nicht in dem Zug säße, denn in Gedanken war er noch immer im Hotel d’Or in St. Ursanne. Als er dort angekommen war und gesehen hatte, daß die Tür halb offen stand, war er mißtrauisch geworden. Er hatte seine Smith & Wesson gezogen und war langsam die Stufen hinaufgeschlichen. Drinnen hatte er sich rasch umgesehen, nachdem er automatisch die Tür hinter sich zugemacht hatte. Jetzt trat ihm noch einmal das ganze Grauen vor Augen, das er im Inneren des Hotels vorgefunden hatte. Er sah wieder Juliettes Körper, der wie ein Stück Fleisch an dem Bilderhaken hing. Die Muskeln waren erschlafft und die weit aufgerissenen Augen ohne Leben. Seinen ersten Impuls unterdrückend, zwang sich Newman, zunächst in Speisesaal und Küche nachzusehen, ob der Mörder sich vielleicht dort versteckte. Dann trat er auf Juliette zu und fühlte ihr den Puls. Sie war tot. So tot, wie man nur sein konnte. Trotzdem machte Newman sich
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