Kaltgestellt
Vorwürfe, daß er ihr nicht gleich den Puls gefühlt hatte. Newman steckte die Pistole zurück in das Halfter und faßte Juliette um die Hüften. Dann hob er sie von dem Haken herunter und legte sie behutsam auf ein in der Ecke stehendes Sofa. Er holte ein Messer aus der Küche, schnitt damit den Henkersknoten durch und entfernte das Seil von ihrem geschwollenen Hals. Kurz dachte er daran, die Polizei anzurufen, verwarf die Idee aber wieder. Er wollte nicht, daß man ihn tagelang festhielt und verhörte. Vielleicht als Zeugen, vielleicht aber auch als Tatverdächtigen. Und Tweed brauchte ihn dringend in Basel, wo viel Arbeit auf sie wartete. Als er sich umdrehte, um zu gehen, sah er etwas unter einem der Tische auf dem Boden liegen und hob es auf. Nun wußte er, wer der brutale Mörder war. Einmal ging er noch zurück zur toten Juliette und legte ihr eine Hand aufs Gesicht. Es fühlte sich schon ganz kalt an. Danach wischte er mechanisch wie ein Roboter mit seinem Taschentuch den Griff des Messers und die Türklinke ab und eilte nach draußen. Obwohl er nicht erwartet hatte, den Killer auf der Straße zu sehen, schaute er sich trotzdem um. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Newman schaute auf die Uhr. Es war fast unmöglich, daß er den Zug noch erreichte, aber er wollte es trotzdem versuchen und rannte los. Dabei konzentrierte er sich nur aufs Laufen und verbannte alle anderen Gedanken aus seinem Gehirn. Erst jetzt, wo der Schock langsam abklang, konnte er wieder klar denken.
»Wollen wir den Platz tauschen, Paula?«, fragte er mit normaler Stimme. »Sie sitzen doch gern am Fenster.« Paula tat, was er vorgeschlagen hatte, aber sie blickte nicht nach draußen, sondern auf Newman, dem nicht bewusst war, daß sein Gesicht aschfahl aussah. Alle anderen außer Tweed bemühten sich nun, ihn nicht anzusehen. Sie wollten ihm Zeit lassen, wieder zu sich zu finden. »Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, Bob«, sagte Tweed vorsichtig. »Ist was passiert?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Wollen Sie uns nicht sagen, um was es sich handelt?« Weil Paula neben ihm saß, die in letzter Zeit eine Menge durchgemacht hatte, wählte Newman seine Worte sehr sorgfältig. »Ich habe schlimme Neuigkeiten«, begann er. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Tweed ebenso ruhig wie Newman.
»Hat es etwas mit Juliette Leroy zu tun?«, flüsterte Paula. »Als ich in das Hotel kam, war sie tot. Erdrosselt.«
»O nein.« Paula biß die Zähne aufeinander, und Newman beschloß, keine Einzelheiten zu erzählen. Das konnte er später nachholen, wenn er mit Tweed allein war. Jetzt wäre jede nähere Beschreibung nur eine Quälerei für Paula gewesen. Er langte in die Tasche seines Mantels und holte den Gegenstand hervor, den er unter dem Stuhl in Juliettes Hotel gefunden hatte. Es war ein Knopf von einem Mantel. »Wissen Sie, woher der stammt?«, fragte er und gab Marler den Knopf. »Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Er stammt vom Mantel von Juliettes Mörder, dem falschen Blinden, der vor dem Torturm an uns vorbeigeschlurft ist. Das war eine verdammt ausgefuchste Verkleidung. Wie Tweed schon sagte: Wir haben es hier mit Profis zu tun.«
»So genau habe ich mir den Blinden gar nicht angesehen«, sagte Marler.
»Aber ich. Sein Mantel war ziemlich alt und hatte genau dieselben Knöpfe. Schon als ich den Blinden an uns vorbeigehen sah, ist mir das seltsame Symbol auf dem Knopf aufgefallen, aber erst jetzt erkenne ich, was es darstellt. Es sieht aus wie die Fackel der New Yorker Freiheitsstatue.«
»Stimmt«, sagte Marler und gab ihm den Knopf zurück. »Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Unter einem Stuhl im Speisesaal des Hotels. Vielleicht hat es zwischen dem Mörder und Juliette einen Kampf gegeben, vielleicht hing der Knopf aber auch nur noch an einem Faden und fiel von allein ab.«
»Und ich habe den Blinden noch bedauert, als er an uns vorbeigegangen ist«, murmelte Paula. »Genau das war wohl auch seine Absicht«, sagte Tweed. »Die arme Juliette«, fuhr Paula fort.
»Sie war so eine nette, freundliche Frau. Ich habe mich schon darauf gefreut, bei ihr einmal einen Urlaub zu verbringen. Jetzt kann mir das ganze St. Ursanne gestohlen bleiben.« Sie starrte aus dem Fenster, wo die Abendsonne ihre letzten Strahlen über die von zartem Grün bedeckte Landschaft warf. Aber Paula hatte keine Augen für die schöne Umgebung, denn sie dachte an das Mittagessen im Hotel d’Or. Tweed und Juliette waren so gut miteinander
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