Kaltgestellt
beständig von einem Gesicht zum anderen, als wollte sie ihre Gäste bis ins kleinste Teil erforschen. Dabei war sie kein bißchen nervös und fuhr sich nie mit der Hand durch ihre umwerfenden Haare, wie das so viele andere Frauen getan hätten. Ihr blasses, schön geschnittenes Gesicht war dazu angetan, die Aufmerksamkeit fast eines jeden Mannes auf den ersten Blick zu fesseln. Trotzdem war in ihrer sehr englisch klingenden Stimme nicht der leiseste Anflug von Koketterie, wenn sie mit Tweed oder Newman sprach.
»Ich möchte einen Toast ausbringen«, sagte Tweed und hob sein Glas. »Auf Sharon, unsere Gastgeberin, eine der bemerkenswertesten Frauen der Welt.«
»Darauf trinke ich«, stimmte Newman ein. »Da werde ich ja gleich rot«, erwiderte Sharon und nippte an ihrem Glas. »Ich habe in Amerika wirklich schon mit Gott und der Welt diniert, aber noch nie bin ich mit so dynamischen und talentierten Leuten zu Tisch gesessen wie heute Abend.« Sie sah Paula geradewegs in die Augen. »Das gilt in vollem Umfang auch Sie, meine Liebe.«
»Vielen Dank, aber ich fürchte, Sie übertreiben.«
»Nein, Amerikaner übertreiben. Ich nicht.« Paula hatte Sharon genau beobachtet, während diese mit ihr sanften Stimme gesprochen hatte. Soweit Paula es beurteilen konnte, war die Frau absolut ehrlich. Während sie noch weiter darüber nachdachte, sagte Newman etwas, was dazu angetan war, die angenehme, entspannte Atmosphäre am Tisch zu zerstören.
»Sie müssen es ja wissen, Sharon«, meinte er. »Schließlich waren Sie ja mit vier Amerikanern verheiratet.«
»Und ob ich das war«, entgegnete Sharon mit einem fröhlichen Lachen und blickte Newman direkt an. »Es ist wohl kein Zufall, daß ausgerechnet Sie meine Abenteuer – oder sagen wir besser Experimente – mit den amerikanischen Männern erwähnen. Als ich zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten kam, war ich noch sehr jung und absolut überwältigt von dem, was ich dort sah. Ein Jahr später habe ich bemerkt, daß ich meinen Mann nicht leiden konnte. Er hat von seinen phänomenalen Geschäften geprahlt und ständig ein Auge auf andere Frauen geworfen. Also bin ich zum Anwalt gegangen, der dann die Scheidung eingeleitet hat. Ich war völlig verblüfft, als er mir gesagt hat, wieviel mir das finanziell einbringen würde. Und dann wurde es mir langsam klar.«
»Was denn?«
»Wenn Sie rauchen wollen, Bob, dann tun Sie sich keinen Zwang an.« Sharon hatte bemerkt, wie Newman in seine Tasche nach der Zigarettenschachtel gegriffen und es sich dann doch anders überlegt hatte. Nun nickte er, holte die Schachtel heraus und zündete sich eine Zigarette an. »Ja, was ist mir klar geworden?«, fuhr Sharon fort. »Mir wurde klar, daß die Amerikaner nur dann Respekt vor Menschen haben, wenn diese reich sind. Und ich entschloß mich, dieses Spiel mitzuspielen. Mein erster Mann hatte mich in die Welt der Country Clubs, Luxushotels, Topmodels, Cadillacs und so weiter eingeführt. Und in dieser Welt traf ich auch meinen zweiten Mann.« Sie brach wieder in ein leises Lachen aus.
»Gleich erzähle ich Ihnen weiter, aber jetzt sollten wir uns erst einmal die Speisekarte ansehen.« Paula war von Sharons Persönlichkeit fasziniert. Bei der Erzählung über ihre Ehemänner war sie auf einmal sehr lebhaft geworden. Sie sprühte vor Vitalität, und Paula wurde klar, warum die Männer in aller Welt so fasziniert von ihr waren. Als alle ihr Essen ausgewählt hatten, wobei allgemein auf Vorspeisen verzichtet wurde, bat Sharon Tweed um Hilfe bei der Wahl des Weins. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, ergriff sie wieder das Wort. »Jetzt erzählen Sie aber auch mal was«, sagte sie zu Tweed. »Ich rede sonst den ganzen Abend.«
»Wußten Sie, daß Denise Chatel abgereist ist? Mir hat das jemand kurz vor dem Essen erzählt.«
»Ja. Auch ich habe das über zwei Ecken herausgefunden.« Sharons Lebhaftigkeit wich wieder ihrer Ruhe. »Sie hat mir kein Wort davon gesagt, und ich verstehe nicht, wieso sie das getan hat. Keine Ahnung, wo sie hingefahren ist.«
»Dann ist sie also einfach so verschwunden?«
»Ohne ein Wort des Abschieds. Und das, nachdem sie zwei Jahre für mich gearbeitet hat. Ich bin verblüfft – und ich mache mir Sorgen.«
»Sollte man nicht die Polizei einschalten?«, gab Tweed zu bedenken.
»Daran dachte ich auch schon, aber dann habe ich doch davon Abstand genommen. Denise ist eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen treffen kann. Sie hat gute
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