Kammerflimmern
Ihr Lebenslauf war ungewöhnlich solide. Sie hatte auf der Norwegischen Handelshochschule Betriebswirtschaft studiert und an der London School of Economics promoviert. Aus einer untergeordneten Stellung in dem Betrieb, der früher einmal Kværner geheißen hatte, war Agnes Klemetsen von dem Instrustriemagnaten Kjell Inge Røkke unter seine Fittiche genommen worden, als Kværner aufgekauft und dem mächtigen Akerkonzern einverleibt wurde. Sie hatte immer schon die Sozialdemokraten gewählt, und auf ihrem Weg an die Spitze von Aker wurde sie im Herbst 2005 von der frischgebackenen Finanzministerin Kristin Halvorsen verpflichtet. Agnes Klemetsen fühlte sich geschmeichelt, gab sich zufrieden mit einem Drittel ihres bisherigen Gehalts und war bis zum März 2007 als Staatssekretärin im Finanzministerium tätig. Dann nahm sie in der resignierten Erkenntnis ihren Abschied, dass die Politikerin, die die düsteren, schweren Türen des Ministeriums durchschritt, alle Hoffnung fahren ließ.
Es gab viel spannendere Arenen für eine Frau von Agnes Klemetsens Format.
Die Wirtschaft brauchte kompetente, hart arbeitende und am liebsten kinderlose Frauen. Da der Staat im Kampf um die Erfüllung der Frauenquote von mindestens vierzig Prozent in seinen Aufsichtsräten vorangehen musste, hatte es Angebote in Hülle und Fülle gegeben. Das hier war von allen das größte.
Mit knapp einundvierzig Jahren war sie vom norwegischen Staat in den Aufsichtsrat von Mercury Medical berufen worden, der weltgrößten Firma im Bereich von Pharmazie und medizinischer Elektronik. Sie war die einzige Frau in der Firmenleitung und mit Abstand die Jüngste.
Nachdem das Parlament grünes Licht erteilt hatte für den Umbau des Staatlichen Pensionsfonds Ausland, besser bekannt als Ölfonds, hatte ein großer Teil des gigantischen staatlichen Vermögens in Einzelgesellschaften investiert werden müssen. Bisher war der Fonds, der sich der schwindelnden Summe von dreitausend Milliarden Kronen näherte, auf zahllose Posten in Unternehmen in aller Welt verteilt gewesen, um das Risikoprofil zu minimieren. Was in regelmäßigen Abständen zu Wutausbrüchen in der Presse führte, da die norwegische Bevölkerung an allem verdiente, von Kinderarbeit zu Landminen, von Terrorregimes zu überaus umweltschädlicher Industrie.
Ethische Aktienspekulation war fürwahr eine anstrengende Disziplin.
Das Parlament hatte natürlich Rahmen für die neue Investitionspolitik gesteckt. Vor allem sollte in Umwelt, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung in der Dritten Welt investiert werden. Was die Politiker jedoch nicht wussten, wenn sie monatelang an ihren Erlassen herumfeilten, war, dass die Analytiker des Staatlichen Pensionsfonds den politisch korrekten Beschluss schon längst vorhergesehen hatten und bereits daran arbeiteten, dem norwegischen Staat 33 Prozent der Eigneranteile von Mercury Medical zu sichern.
Und jetzt war sie dort, Agnes Klemetsen.
In der Edwardian Park Suite im Plaza Hotel in New York City, als von den Eignern ernanntes Aufsichtsratsmitglied von Mercury Medical.
Es war ein ehrenvolles Amt und eine Herausforderung. Sie versuchte nun schon seit fünf Wochen, sich in Bilanzen, Budgets, Aktivitäten und Organisationsmuster des Konzerns einzuarbeiten. Noch nie hatte sie sich auf etwas so gut vorbereitet wie auf die morgige Pressekonferenz. Dennoch war sie zu nervös, um zu schlafen.
Nein, nicht nervös. Einfach nur aufgeregt. Und froh.
Die norwegische Bevölkerung hatte 500 Milliarden Kronen in ein und dieselbe Gesellschaft investiert, und ihre Aufgabe war es, auf dieses Geld aufzupassen.
500 000 000 000 Kronen!
Sie lächelte und schloss die Augen.
Eine durchwachte Nacht würde dieses Erlebnis nicht schmälern, dachte sie.
Und schlief ein.
8.03 Uhr
GRUS, Bærum
Assistenzarzt Ola Farmen kam nicht rechtzeitig zur Morgenbesprechung, obwohl sein Fahrstil zum Führerscheinverlust Anlass gegeben hätte. Er zuckte bedauernd mit den Schultern, als er den rechteckigen Besprechungsraum betrat. Drei grafische Blätter von Kaare Tveter schmückten eine Längswand, ein großes Gemälde von Ørnulf Opdahl zeigte eine Querwand. Königin Sonja hatte das Komitee zur Ausschmückung des neuen Krankenhauses geleitet. Ihre Vorliebe für norwegische Künstler hatte das GRUS zu einer bewundernswerten Dauerausstellung zeitgenössischer Kunst des Landes gemacht.
Die Bilder, zusammen mit einem langen Tisch aus Birkenholz, die von Natalie Buijs entworfenen Sessel und
Weitere Kostenlose Bücher