Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
eigentliche Frage, die wir meiner Meinung nach in diesem Zusammenhang stellen sollten, lautet: Weshalb musste sich erst eine militärische Katastrophe ereignen, bevor die Demokraten nach zwölfjähriger republikanischer Vorherrschaft endlich die Mehrheit im Kongress zurückerobern konnten? (Abgesehen von der militärischen Katastrophe war ein weiterer Faktor ausschlaggebend für den Erfolg der Demokraten: Ein wesentlicher Aspekt der Wahlkampfstrategie bestand darin, möglichst nicht mit der Ostküsten-Elite in Verbindung gebracht zu werden, die Kerry nach Meinung vieler exemplarisch verkörperte.) Und eine weitere, viel interessantere Frage lautet: Warum war der Kurs der Republikaner so lange derart erfolgreich gewesen?
Um eine Antwort hierauf zu finden, muss man sehr viel tiefer in das Wesen der amerikanischen Gesellschaft eindringen, als das die meisten Journalisten heutzutage gewillt sind. Wir sind es gewohnt, Fragestellungen dieser Art auf ein Entweder-oder zu reduzieren: Patriotismus kontra berufliche Chancen, Werte kontra Alltagsthemen wie Arbeitsplätze und Bildung. Indem man die Dinge jedoch auf diese Weise formuliert, spielt man, wie ich meine, den Rechten in die Hände. Natürlich gehen die meisten Menschen zur Armee, weil es ihnen an Möglichkeiten fehlt. Die eigentliche Frage, die sich hier stellt, lautet indes: an Möglichkeiten, was zu tun?
Ich bin ja Anthropologe, daher möchte ich im Folgenden die Frage nochmals aus einem anthropologischen Blickwinkel beleuchten. Einen ersten Hinweis erhielt ich während eines Vortrags von Catherine Lutz, einer Anthropologin und Kollegin von der Brown University, die in US-Militärbasen in Übersee geforscht hatte. Viele dieser Stützpunkte organisieren spezielle Outreach-Programme, in deren Rahmen Soldaten beispielsweise Schulen besuchen und dort die Klassenzimmer reparieren oder kostenlose zahnärztliche Untersuchungen für die Bevölkerung vor Ort anbieten. Diese Programme wurden ins Leben gerufen, um die Beziehungen zwischen der Armee und der dortigen Bevölkerung zu verbessern; diese Zielsetzung wurde allerdings auffallend häufig nicht erreicht. Doch warum stellt die Armee die Programme dann nicht einfach ein, wo sie doch so ineffektiv sind? Der Grund dafür ist, dass sie eine enorme psychologische Wirkung entfalten und viele Soldaten richtiggehend euphorisch werden, wenn sie diese beschreiben sollen. Dabei fallen Äußerungen wie: »Mensch, deshalb bin ich zur Armee gegangen«; »Genau darum geht es doch beim Militärdienst – wir sollen nicht nur unser Land verteidigen, sondern auch den Leuten helfen.« Professor Lutz ist überzeugt davon, dass die Programme hauptsächlich weiter finanziert werden, weil die Soldaten, die an einem solchen Programm teilgenommen haben, sich mit größerer Wahrscheinlichkeit wiederverpflichten. Die hauseigenen Statistiken der Armee sind in dieser Hinsicht wenig aussagekräftig: In den Umfragen wird unter »Gründe für die Wiederverpflichtung« die Antwort »Menschen zu helfen« gar nicht erst aufgeführt. Interessanterweise ist diejenige Option, die die edelste Gesinnung voraussetzt – »Patriotismus« –, das mit Abstand am häufigsten angegebene Motiv.
Doch mit Sicherheit sehen sich Amerikaner nicht als Nation enttäuschter Altruisten. Ganz im Gegenteil: Unsere üblichen Denkmuster sind eher von rustikalem Zynismus geprägt. Die Welt ist ein einziger riesiger Marktplatz; jeder hat es nur aufs Geld abgesehen. Wenn man wissen will, warum etwas passiert ist, muss man zuallerst fragen, wer wohl davon profitieren könnte. Dieselbe Einstellung, die in den Hinterzimmern von Kneipen zum Ausdruck gebracht wird, findet Widerhall in den höchsten Sphären der Sozialwissenschaften. Der wichtigste Beitrag, den Amerika in dieser Hinsicht der Welt beschert hat, sind die so genannten Theorien der »rationalen Entscheidung« ( rational choice theories ), die von der Annahme ausgehen, dass jegliches menschliche Verhalten allein auf wirtschaftliches Kalkül zurückgeführt werden kann. Laut diesen Theorien versuchen rationale Akteure, aus jeder Situation das Beste herauszuholen und dabei die eigenen Kosten zu minimieren. Folglich ist die bloße Existenz altruistischen Verhaltens den meisten Wissenschaftlern ein Rätsel. Zahlreiche Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen, von Wirtschaftswissenschaftlern bis hin zu Evolutionsbiologen, sind berühmt geworden, weil sie versuchten, dieses Rätsel zu »lösen«, also das Geheimnis zu
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