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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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lassen können, falls sie das Glück haben, den Jackpot zu knacken. Dennoch versuchen Theoretiker permanent, den Schleier des schönen Scheins zu lüften und zu beweisen, dass hinter solch scheinbar selbstlosen Gesten in Wirklichkeit stets eine eigennützige Strategie steckt. Dabei täte man besser daran, sich die amerikanische Gesellschaft als eine Gruppe von Menschen vorzustellen, die um das Recht kämpft, selbstlos handeln zu dürfen. Selbstlosigkeit – beziehungsweise zumindest das Recht darauf, sich an edelmütigen Taten zu beteiligen – ist keine strategische Maßnahme. Sie ist das lohnenswerte Ziel, das es zu erreichen gilt, der Preis, den man bekommt.
    All diese Überlegungen erklären zumindest in Teilen, warum die Rechte in den letzten Jahren sehr viel erfolgreicher populistische Stimmungsmache betrieben hat als die Linke. Das läuft im Grunde so ab, dass sie den Liberalen vorwerfen, diese enthielten den Durchschnittsamerikanern das Recht vor, Gutes zu tun. Diese Sichtweise will ich im Folgenden näher erläutern. Hierzu will ich zunächst eine Reihe von Thesen in den Raum stellen.

THESE I
    Weder der Egoismus noch der Altruismus stellen natürliche Triebe dar; sie erwachsen vielmehr aus der wechselseitigen Beziehung zueinander und wären ohne den Markt undenkbar.
    Zunächst sollte ich vermutlich klarstellen, dass ich nicht der Meinung bin, Wesenszüge wie Egoismus oder Altruismus seien in irgendeiner Form in der menschlichen Natur angelegt.
Die Motive der Menschen sind selten so simpel gestrickt. Egoismus und Altruismus sind vielmehr Vorstellungen, die unser Bild von der menschlichen Natur prägen. Historisch gesehen entwickelt sich die eine häufig als Reaktion auf die jeweils andere Verhaltensweise. So fiel beispielsweise die Entstehung von Geld und Märkten räumlich und zeitlich genau mit dem Aufkommen der drei Weltreligionen Buddhismus, Christentum und Islam zusammen. Dies ist wenig verwunderlich. Wenn jemand hergeht, einen speziellen Raum schafft und dann sagt: »Hier in dieser Sphäre sollt ihr euch ausschließlich mit dem Erwerb von materiellen Dingen zu eurem eigenen Nutzen befassen«, ist es nur folgerichtig, wenn schon bald ein anderer daherkommt, einen zweiten Raum als Ausgleich hierzu entwirft und dann im Prinzip verkündet: »Ja, aber hier in dieser Sphäre müssen wir uns darauf besinnen, dass das Selbst und alles Materielle letztlich unwichtig sind.« Natürlich waren es auch letztere Instanzen, die unsere modernen Vorstellungen von Wohltätigkeit hervorgebracht haben.
    Selbst heute, wenn wir außerhalb der Sphären des Markts und der Religion agieren, sind wohl die wenigsten unserer Handlungen auf so simple Motive wie hemmungslose Habgier oder völlig selbstlose Großzügigkeit zurückzuführen. Wenn wir es nicht mit Fremden zu tun haben, sondern mit Freunden, Verwandten oder Feinden, kommen in der Regel weitaus kompliziertere Beweggründe ins Spiel: Neid, Solidarität, Stolz, selbstzerstörerische Trauer, Loyalität, Liebeswahn, Ärger, Gehässigkeit, Scham, Geselligkeit, die Vorfreude auf gemeinsame Stunden, der Wunsch, einen Rivalen bloßzustellen, und so weiter. Diese Motive sind die treibenden Kräfte hinter den entscheidenden und dramatischen Ereignissen unseres Lebens. Große Schriftsteller wie Tolstoi und Dostojewski
haben diese Dramen in ihren Romanen verewigt, während Gesellschaftstheoretiker aus irgendeinem Grund dazu neigen, ihnen keinerlei Beachtung zu schenken. Wenn man in Regionen der Welt reist, in denen Geld und Märkte nicht existieren  – beispielsweise in bestimmten Gegenden Neuguineas oder Amazoniens –, wird man nach wie vor auf ebensolch ein kompliziertes Geflecht an Beweggründen stoßen. In Gesellschaften, in denen die meisten Menschen in kleinen Gemeinschaften zusammenleben und in denen fast jeder, den man kennt, entweder ein Freund, ein Verwandter oder ein Feind ist, fehlen in den jeweiligen Sprachen häufig sogar die entsprechenden Wörter für »Eigennutz« oder »Selbstlosigkeit«. Stattdessen ist der Wortschatz reich an äußerst nuancierten Ausdrücken zur Umschreibung von Gefühlen wie Neid, Solidarität, Stolz und so weiter. In ähnlicher Weise beruhen auch ihre wirtschaftlichen Beziehungen auf sehr viel subtileren Prinzipien. Anthropologen haben eine Unmenge an Fachliteratur zu diesem Thema veröffentlicht. Darin versuchen sie, das geheimnisvolle Kräftespiel zu verstehen, das diesen scheinbar so exotischen Geschenkökonomien zugrunde liegt.

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