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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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konnten, oder haben die Republikaner gewonnen, weil es ihnen gelungen war, konservative Christen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe zu mobilisieren? Wie bereits gesagt, die Tatsache, dass die Progressiven die Frage so formulieren, zeigt in Wahrheit nur, dass sie den Begrifflichkeiten der Rechten verhaftet sind. Es beweist außerdem, dass sie nicht begreifen, wie Amerika wirklich funktioniert.
    Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, möchte ich
mich im Folgenden kurz mit der merkwürdigen Tatsache befassen, dass sich George W. Bush, zumindest bis vor kurzem, in der Bevölkerung einer hohen Beliebtheit erfreute. Die Mehrheit der amerikanischen liberalen Intelligenz konnte es schlicht nicht fassen, als er 2004 wiedergewählt wurde. Viele argwöhnten, dass genau die Eigenschaften, die sie an Bush am unerträglichsten fanden, ihn bei den Bush-Wählern so beliebt machten. Dies wollte ihnen natürlich partout nicht in den Kopf. Nehmen wir zum Beispiel die Fernsehduelle. Wenn man den Statistiken Glauben schenken darf, sahen sich Millionen von Amerikanern den Schlagabtausch zwischen George Bush und John Kerry an, kamen zu der Schlussfolgerung, dass Kerry gewonnen habe, und gingen dann trotzdem los und wählten Bush. Daher war die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass Kerrys Wortgewandtheit sowie seine überzeugende Argumentation letztlich gegen ihn gesprochen hatten.
    Dies treibt die Liberalen natürlich schier zur Verzweiflung. Es ist ihnen unerklärlich, weshalb Entschlossenheit und Führungsstärke gleichgesetzt wird mit schwachsinnigem Verhalten. Genauso wenig können sie verstehen, wie ein Politiker, der einer der elitärsten Familien des Landes entstammt, der die Phillips Academy in Andover besucht und in Yale und Harvard studiert hat und dessen typischer Gesichtsausdruck ein selbstgefälliges Grinsen ist, jemals irgendjemanden davon überzeugen konnte, er sei »ein Mann des Volkes«. Ich muss zugeben, dass ich mir ebenfalls wieder und wieder den Kopf darüber zerbrochen habe. Meine Eltern kamen aus der Arbeiterklasse, ich selbst bekam in den 1970ern ein Stipendium für die Phillips Academy und fand schließlich eine Anstellung an der Yale University. Somit habe ich einen Großteil meines Lebens in der Gegenwart von Männern wie Bush verbracht, die vor Selbstgefälligkeit und Privilegiertheit nur so strotzten.
Man muss jedoch leider sagen, dass Geschichten wie meine – also Geschichten, die von extremer sozialer Mobilität durch akademische Leistungen handeln – in Amerika zusehends selten werden.
    Natürlich sieht sich Amerika nach wie vor als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und sicherlich mag das aus Sicht eines Einwanderers aus Haiti oder Bangladesch auch stimmen. Was die soziale Mobilität insgesamt angeht, schneiden die Vereinigten Staaten im Vergleich zu Ländern wie Bolivien oder Frankreich zweifellos noch immer sehr gut ab. Ein grenzenloser sozialer Aufstieg scheint jedoch nicht mehr möglich, obwohl dieses Versprechen einst als Grundpfeiler der amerikanischen Gesellschaft galt. Die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse wurde traditionell als bloße Durchgangsstation angesehen, die eine Familie auf ihrem Weg des sozialen Aufstiegs durchläuft. Abraham Lincoln pflegte zu betonen, dass die amerikanische Demokratie darauf beruhe, dass es keine Schicht von ständigen Lohnarbeitern gebe. Die Idealvorstellung zu Lincolns Zeiten war: Als Lohnarbeiter sollten hauptsächlich Einwanderer tätig sein und das auch nur so lange, bis sie genug Geld gespart hätten, um danach etwas anderes tun zu können. Wenigstens sollten sie in der Lage sein, sich ein Stück Land zu kaufen und so genannte Heimstättenbesitzer an der Grenze zu werden. (Eine Heimstätte ist ein unbesiedeltes, 160 Acre großes Stück Land, das auf der Grundlage des Homestead Act von 1863 gegen eine geringe Gebühr zur Bewirtschaftung an Siedler vergeben wurde, A.d.Ü.)
    Dabei geht es nicht darum, wie zutreffend diese Wunschvorstellung war; entscheidend war, dass die meisten Amerikaner dieses Bild als glaubwürdig empfanden. Wenn die Menschen allerdings das Gefühl hatten, der Weg zum sozialen Aufstieg sei ihnen versperrt, kam es jedes Mal zu heftigen
Unruhen. Als im Jahr 1890 offiziell die vollständige Erschließung des Landes und damit die Schließung der Besiedlungsgrenze, der frontier , verkündet wurde, führte dies zu erbitterten Arbeitskämpfen. Der stetige und rasche Ausbau des amerikanischen Universitätssystems im 20. Jahrhundert

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