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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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viel. Alle fielen beispielsweise mit einem revolutionären Moment zusammen: In der Terminologie Immanuel Wallensteins war dies in einem Fall die Weltrevolution von 1917, im anderen Fall die Weltrevolution von 1968. Sie wurden Schauplatz einer kreativen Explosion, in deren Rahmen eine seit langem bestehende wichtige künstlerische oder intellektuelle Tradition Europas an die Grenzen ihrer radikalen Möglichkeiten stieß. Das heißt, dass man damals zum letzten Mal glaubhaft versichern konnte, alle Regeln zu brechen, stelle an sich schon zwangsläufig einen subversiven politischen Akt dar. Dies galt unabhängig davon, ob man etwa künstlerische Konventionen verletzte oder philosophische Grundannahmen erschütterte.
    Besonders deutlich wird dies im Falle der klassischen europäischen Avantgarde. Duchamp schuf sein erstes Readymade im Jahr 1914, Hugo Ball verfasste 1916 sein »Eröffnungs-Manifest, 1. Dada-Abend« sowie seine ersten Lautgedichte, Malewitsch malte 1918 sein Weißes Quadrat auf weißem Grund. All dies gipfelte im Phänomen der Berliner Dada-Bewegung 1918 bis 1922. Im Rahmen dieser Bewegung vollführten revolutionäre Künstler in rascher Abfolge nahezu jede nur denkbare subversive Geste, von weißen Leinwänden über das automatische Schreiben, Theateraufführungen, die zu Krawallen anstacheln sollten, gotteslästerliche Fotomontagen, Galerieausstellungen, bei denen die Besucher einen Hammer bekamen und aufgefordert wurden, jedes Kunstwerk zu zerstören, das ihnen
nicht gefiel, bis hin zu Gegenständen, die man auf der Straße aufgesammelt hatte und kurzerhand zur Kunst erklärte. Die Surrealisten mussten dann nur noch ein paar verbleibende Punkte verbinden, und danach war der heldenhafte Moment auch schon eindeutig vorbei. Natürlich konnte man nach wie vor politische Kunst machen, und man konnte sich nach wie vor über Konventionen hinwegsetzen. Doch es war praktisch unmöglich geworden zu behaupten, dass man, indem man das eine tat, zwangsläufig auch das andere bewirkte. Schon der bloße Versuch, beides gleichzeitig umzusetzen, wurde zunehmend schwierig. Selbstverständlich konnte man die Tradition der Avantgarde weiterführen, ohne für sich zu beanspruchen, das eigene Werk habe politische Implikationen (wie dies jeder, von Jackson Pollock bis Andy Warhol, tat). Es war auch weiterhin möglich, offen politische Kunst zu schaffen (wie beispielsweise Diego Rivera). Man konnte sogar (wie die Situationisten) als Revolutionär in der Tradition der Avantgarde weitermachen und lediglich die Kunst an den Nagel hängen, doch damit waren die verbleibenden Möglichkeiten so gut wie ausgeschöpft.
    Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich innerhalb der Kontinentalphilosophie nach dem Mai 1968 ab. Philosophische Annahmen wurden zerschmettert, und es wimmelte nur so von großartigen Grundsatzerklärungen (das intellektuelle Pendant zu Dada-Manifesten): der Tod des Menschen, der Wahrheit, des Sozialen, der Vernunft, der Dialektik, sogar des Todes selbst. Doch das Endergebnis war im Großen und Ganzen das Gleiche. Binnen eines Jahrzehnts hatten sich die möglichen radikalen Positionen, die man innerhalb der Großen Tradition der post-cartesianischen Philosophie einnehmen konnte, im Grunde erschöpft. Der heroische Augenblick war zu Ende. Es wurde zusehends schwieriger, die Behauptung aufrechtzuerhalten, heldenhafte erkenntnistheoretische Subversionen
seien an sich schon revolutionär oder auch nur in irgendeiner anderen Hinsicht sonderlich subversiv. Die Auswirkungen dieser Subversionen waren, wenn überhaupt, entpolitisierend. Genau wie rein formale, experimentelle Avantgardekunst sich als passender Wandschmuck in den Häusern konservativer Banker erwies und surrealistische Montagen zur Sprache der Werbeindustrie mutierten, so erwies sich die Theorie des Poststrukturalismus schnell als perfekte Philosophie selbstgefälliger liberaler Akademiker ohne jegliches politisches Engagement.
    Dies würde zumindest erklären, warum solche heroischen Momente derart zwanghaft immer wieder heraufbeschworen werden. Dabei handelt es sich letztlich um eine subtile Form des Konservatismus – oder vielleicht sollte man es konservativen Radikalismus nennen, falls es so etwas gäbe: eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten, als es noch möglich war, sich einen Anzug aus Alufolie anzuziehen, Nonsensgedichte aufzusagen und mit anzusehen, wie sich ein biederes bourgeoises Publikum in einen aufgebrachten Lynchmob verwandelte. Oder

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