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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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Deutungsarbeit richtet sich dabei weniger an die (nun unsichtbaren) männlichen Chefs, sondern zielt vielmehr auf die Egos der Kunden ab. Die Zusammenhänge sind also durchaus gegeben. Eine klare Vorstellung davon, was daran nun eigentlich neu sein soll, kann man allerdings nur bekommen, wenn man von einer langfristigen Sichtweise ausgeht. Genau dies wird jedoch durch einen postmodernen Ansatz verhindert.
    Das bringt mich zu meinem zweiten Argument. Die Annahme, man könne von »immaterieller Arbeit« sprechen, stützt sich nämlich interessanterweise auf eine auffallend primitive, altmodische Version des Marxismus. Immaterielle Arbeit, so heißt es, sei diejenige Arbeit, die Information und
Kultur hervorbringt. Mit anderen Worten, sie wird nicht deshalb als »immateriell« bezeichnet, weil die Arbeit an sich immateriell wäre (wie sollte sie das auch sein?), sondern weil dadurch immaterielle Produkte entstehen. Doch genau auf diese Auffassung, man könne unterschiedliche Arten der Arbeit jeweils danach kategorisieren, ob die aus ihr hervorgegangenen Produkte eher materieller oder immaterieller Natur sind, gründet sich letztlich die Idee, dass Gesellschaften aus einer »materiellen Basis« und einem »ideologischen Überbau« bestehen. Dabei ist unter der »materiellen Basis« einmal mehr die Produktion von Weizen, Strümpfen und Petrochemikalien zu verstehen, während unter den so genannten »ideologischen Überbau« etwa die Produktion von Musik, Kultur, Gesetzen, Religion oder Texten wie dem hier vorliegenden fällt. Ausgehend von dieser Vorstellung konnten Generationen von Marxisten sich hinstellen und verkünden, dass das, was wir »Kultur« nennen, großteils nur Banalitäten seien, bestenfalls ein Abklatsch der wirklich wichtigen Sachen, die sich auf Feldern und in Gießereien abspielten.
    Was alle diese Denkansätze außer Acht lassen, ist die meiner Meinung nach vermutlich wirkmächtigste und bleibendste Erkenntnis der marxistischen Theorie: dass die Welt in Wirklichkeit aus Handlungen und Prozessen besteht und nicht aus einer Ansammlung einzelner Objekte, die man kaufen und verkaufen kann (wie uns die Kapitalisten weismachen wollen). Indem sie Letzteres behaupten, können die Reichen und Mächtigen zugleich für sich beanspruchen, dass ihre Arbeit in gewisser Weise abstrakter, vergeistigter, höher stehender und spiritueller sei als das, was alle anderen tun. Dazu lenken sie die Aufmerksamkeit auf die entstandenen Produkte – Gedichte, Gebete, Gesetze, Aufsätze oder reine Abstraktionen wie Stil oder Geschmack – und weg vom eigentlichen Herstellungsprozess,
denn dieser ist in jedem Fall sehr viel chaotischer und unschöner als die Produkte selbst. Auf diese Weise können solche Leute behaupten, sie schwebten über dem Schmutz und Morast einer gewöhnlichen, alltäglichen Existenz. Man sollte meinen, Vertretern eines materialistischen Denkansatzes wäre daran gelegen, solche überheblichen Behauptungen als falsch zu entlarven. So könnten sie etwa darauf hinweisen, dass zum einen die Produktion von Strümpfen, Silberbesteck und Wasserkraftwerken sehr viel Nachdenken und Vorstellungskraft erfordert, und zum anderen die Produktion von Gesetzen, Gedichten und Gebeten ein ausgesprochen materieller Prozess ist. Die meisten zeitgenössischen Materialisten verweisen auch in der Tat auf diesen Punkt. Indem sie Begriffe wie »immaterielle Arbeit« einführen, scheinen Autoren wie Lazzarato und Negri merkwürdigerweise auf den theoretischen Stand von etwa 1935 zurückfallen zu wollen. 18
    Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch anmerken, dass sich derzeit etwas ganz Ähnliches in Bezug auf das Konzept der »Biopolitik« abzeichnet. Damit meine ich die These, dass es eine typische Eigenart moderner Staaten sei, sich mit der Gesundheit, Fruchtbarkeit und der Regulierung des Lebens selbst zu befassen. Diese Grundannahme ist jedoch äußerst fragwürdig: Staaten haben sich seit der Zeit der Gott-Könige (im Frazerschen Sinne) in Fragen der Gesundheit und Fruchtbarkeit eingemischt. Es spricht somit einiges dafür, dass auch dieser Argumentation ein analoger intellektueller Schachzug zugrunde liegt, nämlich das Beharren darauf, dass wir es mit etwas völlig und umfassend Neuem zu tun haben. Diese Behauptung wird dann als Vorwand benutzt, um äußerst altmodische Denkmuster beizubehalten, die ansonsten vermutlich in Frage gestellt würden. Schließlich ist es schon immer eine typische Vorgehensweise gewesen,

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