Kanada
sind von der Welt abgeschnitten und in sich gekehrt. Nicht genug Anregung.« Eine blonde Locke fiel ihm über die Stirn. Er schob sie mit dem Daumen weg. »Der Schriftsteller Tolstoi – du hast sicher schon von ihm gehört …« (Ich hatte den Namen in seinem Bücherregal gesehen.) »… Er hat im letzten Jahrhundert Bauern dafür bezahlt, hierherzukommen. Um sie loszuwerden, nehme ich an. Einige davon sind immer noch hier – also ihre Nachfahren. Es gab eine kurze Phase des zivilisierten Lebens. Da wurden Stücke aufgeführt, Historienspiele und Operetten. Es gab Debattierclubs, und berühmte irische Tenöre aus Toronto gastierten.« Er ließ seine blonden Augenbrauen hüpfen, lächelte und sah sich nach den anderen Gästen des Cafés und den Polizisten um. Das Stimmengemurmel und das Klappern von Besteck auf Geschirr schien er zu mögen. »Heutzutage« – er machte weiter mit dem Schneiden und Essen und Reden – »sind wir auf dem besten Wege zurück ins Bronzezeitalter. Ist ja nicht das Schlechteste.« Er wischte sich den Mund mit seinem Seidentuch ab, fixierte mich und hielt dann den Kopf schief, um anzudeuten, dass er eine Frage hatte. Ich entdeckte ein kleines violettes Muttermal in Form eines Blattes an seinem Hals. »Meinst du, du hast einen klaren Verstand, Dell?«
Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte. Vielleicht war ein klarer Verstand das Gegenteil von unstet. Das wollte ich gern haben. »Ja, Sir«, sagte ich. Mein Hamburger war gekommen, und ich hatte angefangen zu essen.
Er nickte, bewegte seine Zunge hinter den Lippen und räusperte sich. »Hier draußen zu leben verführt einen leicht zu einer Illusion großer Gewissheit.« Er lächelte wieder, doch während er mich betrachtete, verblasste das Lächeln langsam. »Menschen stellen verrückte Dinge an, wenn ihnen ihre Gewissheit abhandenkommt. Du neigst wohl nicht dazu. Du bist doch nicht verzweifelt, oder?«
»Nein, Sir.« Das ließ mich an meine Mutter in ihrer Zelle denken – lächelnd und hilflos. Sie war verzweifelt gewesen.
Arthur nahm einen Schluck von seinem Kaffee, nachdem er kurz in die Tasse gepustet hatte – wobei er sie am Rand hielt, nicht an dem kleinen gebogenen Henkel. »Dann hätten wir das geklärt. Verzweiflung fällt aus.« Er lächelte wieder.
Ich war in Arthur Remlingers Räumen gewesen, hatte Fotos von ihm angesehen. Seine Bücher. Sein Schachbrett. Seine Pistole. Er wirkte jetzt ganz nahbar – in diesem Moment schien mein Wunsch, dass wir Freunde würden, nicht unmöglich zu sein. Ich war noch nie auf den Gedanken gekommen, jemanden zu fragen, warum er genau dort war, wo er auf der Erde war. Für meine Familie, die immer auf Geheiß von oben umgezogen war, hatte sich die Frage nicht gestellt. Aber bei ihm interessierte es mich mehr als die Sache mit den Fasanen, denn er wirkte hier oben noch offensichtlicher fehl am Platz als ich, und trotz allem hatte ich mich ja schon eingewöhnt. Nein, wir waren uns nicht sehr ähnlich.
»Warum sind Sie denn hier hergezogen, wenn es Ihnen gar nicht gefällt?«, fragte ich.
Remlinger schniefte, zog das Taschentuch aus seinem Hemdkragen und zwickte sich damit in seine feine Nase. Er räusperte sich genauso wie seine Schwester Mildred. Das war ihre einzige Gemeinsamkeit. »Hm, eine bessere Frage wäre …« Er wandte sich ab und blickte durch das Fenster des Cafés auf die Straße, wo sein Buick neben dem Dodge der Polizisten parkte. Auf der Innenseite stand in goldenen Lettern MODERN , von uns aus gesehen in Spiegelschrift. Es hatte angefangen zu schneien. Der Wind blies ein wildes Gestöber kleiner Flocken über die Straße wie Nebelschwaden, sie umwirbelten trichterförmig die vorbeifahrenden Autos und Trucks, die zur Mittagszeit ihr Licht eingeschaltet hatten. Anscheinend hatte Arthur vergessen, was er sagen wollte – wie die bessere Frage lautete. Er schnippte mit dem Daumennagel an seinem Goldring herum. Offensichtlich hing er einem anderen Gedanken nach.
Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Jacke – Export A, dieselbe Marke wie Florence. Er steckte sich eine an und blies den Rauch gegen das kalte Fensterglas, wo er vor dem verschneiten Hintergrund waberte. Arthur hätte anscheinend gern etwas Persönliches gesagt, als interessierte er sich für mich und meine Frage. Dabei, was hätte für ihn unnatürlicher sein können? Ein fünfzehnjähriger Junge, den er gar nicht kannte. Vielleicht fand er gut, dass ich Amerikaner war. Vielleicht sah er sich selbst in mir,
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