Kanada
Vielleicht konnten sie noch ein paar Gänse schießen, falls es sich arrangieren ließ – und falls alles andere sich als Falschmeldung erwies. Sie hatten sich auch noch gar nicht richtig überlegt, was sie konkret tun wollten, falls sich Arthur Remlinger doch als der Verbrecher entpuppte und sie ihm dann gegenüberständen – in einem fremden Land, von dem sie nichts wussten oder kannten als die Sprache – und sich gezwungen sähen, irgendetwas zu tun: verlangen, dass er mit ihnen zurück nach Detroit käme (um dort was zu tun?); selber zurückfahren und die Polizei überzeugen, den Fall wieder aufzurollen (aufgrund welcher Beweise?); Arthur entführen, einen kanadischen Staatsbürger, und ihn über eine internationale Grenze transportieren (wie, und was dann mit ihm anfangen? Erschießen? Sie hatten Waffen; das war bekannt – und sollte sich als ein fataler Fehler herausstellen). Es handelte sich um zwei unkomplizierte, durchschnittliche Arbeiter – eher wie die Sportsfreunde, die sich nachts noch in der Bar trafen – und keine von ihrem Sinn für Gerechtigkeit oder Rache getriebenen Männer. Wahrscheinlich, so wurde es Remlinger nahegelegt, malten sie sich schon aus, wie sie im Leonard eintrafen, feststellten, dass offenbar nichts an ihm ungewöhnlich war, und den Chrysler wendeten, zurück Richtung Detroit. Über 3000 Kilometer.
Laut Charley lag das Problem – weswegen ich so gut aufpassen sollte und ein Narr gewesen wäre, es nicht zu tun – darin, dass Arthur bitter und launisch und finster geworden war und noch chaotischer im Kopf, nun, da zwei Fremde auftauchen sollten, die wussten, wer er war und was er getan hatte, und vorhatten, ihn zurück über die Grenze zu schleifen, damit er sich seinem Fehler stellte. Sein Vater lebte noch. Seine Zukunft war vertan. Seine falschen Entscheidungen von früher warteten auf ihn. Arthur fehlte die innere Ruhe, sagte Charley, die geistige Stärke, sich nicht selbst zu belasten. Sein ganzes Leben bestand aus Selbstbelastung. Diese Veränderungen in seinem Verhalten hätte ich bemerken müssen, hatte ich aber nicht.
Arthur hatte all die Jahre hier oben in Erwartung eines Menschen verbracht, der ihn entlarvte – gelitten und gewartet. Ein Leben in einer windzerzausten Stadt, ohne Aussichten – fremd, am Ende der Welt, keine Familie; als Gefährten nur Box, dann Charley, dann Florence. Und nun mich. Wie hatte er es geschafft, hierzubleiben?, fragte ich mich später. Das monströse Klima, der Kalender eine endlose Prärie, gesichtslose Tage, Heimatlosigkeit als Dauerzustand. Unmöglich, würde jeder annehmen. Das war die »bessere Frage«, die Remlinger mir schuldig geblieben war, als wir im Modern Café saßen. Er hatte sich angepasst, wie er mir gesagt hatte.
Und dadurch war er so geworden. Exzentrisch, ungeduldig, wehmütig. Gestört. Heftig vor lauter Enttäuschung. Er lebte das Fragment eines Lebens, das er nicht aufgeben konnte (er hätte es ja getan, aber er hatte weder Nerven noch Fantasie, um an einen noch fremderen Ort zu gehen, wo er sich erneut hätte verstecken können). Charley sagte verächtlich, Arthur sähe sich immer noch als klugen, unbescholtenen jungen Studenten, der nie jemanden umbringen wollte und der darunter litt, dass er es – aus Zufall und Dummheit – doch getan hatte. Der sich nichts sehnlicher wünschte als das Ende seiner Strafe, da sein Leben nur noch aus ihr bestand.
»Du« , sagte Charley. Wir fuhren gerade am Ortsschild von Fort Royal vorbei, zu den flachen Gebäuden und dem Leonard – einem größer werdenden Punkt in der Prärie –, auf der staubigen Main Street, die wegen der einsetzenden Kälte kaum noch Verkehr aufwies (Pickups standen bei laufendem Motor am Straßenrand, die Fahnen an der Post und der Bank knatterten im Wind, dick angezogene Bewohner der Stadt hielten sich nah an den Häuserwänden). »Du sagst keinen Ton von alldem. Nicht zu A.R. Und nicht zu Flo. Ich zieh dir die Haut ab.« Diese Warnung solle mir nur dazu dienen, mir selbst Grenzen zu setzen und mich vor dem zu »schützen«, was geschehen könnte, falls »gewisse Ereignisse« anders liefen als geplant. Charley hatte offensichtlich über diese Ereignisse nachgedacht, beschrieb sie aber nicht, und ich versuchte auch nicht, sie mir vorzustellen.
Allerdings dachte ich bei unserer Fahrt über die Main Street sehr wohl über etwas nach, nämlich über die beiden Amerikaner aus Detroit. Mein Vater hatte gesagt, dort habe jeder gutbezahlte Arbeit und sei
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