Kanada
heraus. »Du warst da?« Er äffte ihren Akzent nach.
»Ja, Sir.«
»Na«, sagte er und warf einen Blick auf Mrs Gedins’ Rücken. »Wenn du das sagst.«
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte ich. Ich war auf einmal sehr nervös.
»Dann geh.« Arthur trat an mir vorbei. »Ich warte draußen auf dem Parkplatz. Mit laufendem Motor. Beeil dich.«
Er ging zur hinteren Küchentür hinaus, ließ einen Schwall Kälte herein und knallte sie hinter sich zu. Wir standen da, Mrs Gedins sagte kein Wort mehr, und es war still.
Ich musste nicht auf die Toilette. Ich musste einen klaren Gedanken fassen, was ich, wie mir plötzlich aufgegangen war, in Remlingers Gegenwart nicht schaffte. Ich hatte seit dem Vortag genug Zeit gehabt, mir alles in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen und auszukundschaften, was ich wissen musste, genug Zeit, um mich damit zufriedenzugeben, dass ich nicht alles wusste, und ein Gefühl aufzubauen, dass wahrscheinlich nicht das Schlimmste, höchstwahrscheinlich eher gar nichts Schlimmes im Zusammenhang mit den beiden Amerikanern passieren würde. »Unsere einschneidendsten Erfahrungen sind handfeste Ereignisse«, hatte mein Vater oft verkündet, wenn meine Mutter oder Berner oder ich uns mit irgendwelchen Sorgen und Unruhen quälten. Ich hatte das immer als Wahrheit genommen – obwohl ich gar nicht genau gewusst hatte, was der Satz bedeutete. Aber die Überzeugung, dass handfeste Ereignisse, die den Verlauf eines Lebens, eines Schicksals veränderten, tatsächlich selten waren, ja, fast nie vorkamen, gehörte mittlerweile zu meinem Verständnis von Normalität. Die Verhaftung meiner Eltern, so schlimm sie gewesen war, hatte das bewiesen – im Vergleich zu meinem Leben bis dahin, in dem es sehr wenig handfeste Geschehnisse gegeben hatte, nur Warten und Erwarten. Und auch wenn ich meinem Vater glaubte, wenn er von der Bedeutung handfester Ereignisse sprach, bewahrte ich mir weiter meinen Kinderglauben, dass letztlich entscheidender war, wie man die Dinge empfand; was man vermutete; was man dachte und fürchtete und im Gedächtnis behielt. So sah das Leben größtenteils für mich aus – Ereignisse, die sich in meinem Kopf abspielten. So seltsam war das angesichts der letzten Wochen nicht, seit ich allein in Kanada war, ohne eine belastbare Zukunft.
Deshalb hatte ich in den letzten Tagen versucht, mein Denken zur bestimmenden Kraft jener Geschehnisse zu machen, die wegen der Amerikaner zu erwarten waren, und daran zu glauben, dass eben gar nichts Besonderes geschehen würde. Zum Beispiel glaubte ich, dass Arthur – weil er »diese beiden« (wie er sie jetzt nannte) erwartet hatte und bis ins kleinste Detail über sie Bescheid wusste, Namen, Alter, Auto, ihre Waffen und ihre Zweifel an der eigenen Mission –, also, dass er die Situation völlig im Griff hatte und ihren Ausgang nach seinem Belieben steuern konnte. Ich glaubte außerdem, dass die Amerikaner niemals etwas Bedeutsames über ihn herausfinden konnten, nicht wenn sie nur nach seinem Aussehen gingen. Ihm stand »Mörder« nicht auf die Stirn geschrieben, niemandem stand es auf die Stirn geschrieben. Ich hatte mir überlegt, wie man sich einem völlig Fremden nähern könnte, wenn es allein um die Frage ging, ob dieser Fremde ein Mörder war, und befunden, dass das schwierig war. Zweifellos hatten das auch die Amerikaner erkannt. Ich erwartete, dass sich die beiden Remlinger gegenüber ihrem Wesen gemäß verhalten würden. Unkompliziert. Aufrichtig. Guten Willens. Sie würden ihn ansprechen müssen, ihm ihre Argumente darlegen, ihre Schlussfolgerungen erläutern, einen Plan präsentieren – woraufhin Remlinger alles ableugnen und ihnen erwidern würde, dass sie sich vollkommen irrten. Was »die Interessenvertreter« daheim in Amerika für den richtigen Weg hielten. Und so würde sich alles klären. Ganz gleich, ob sie Remlinger glaubten oder nicht, die beiden Amerikaner würden sein Leugnen akzeptieren müssen und – wiederum passend zu ihrem Wesen und dem geringen Eifer hinter der Sache – einfach zurück nach Detroit fahren. Was sollten sie auch sonst tun? Sie hatten nicht genug Mumm, ihn zu erschießen. Wahrscheinlich würden sie mit Charley und mir am nächsten Morgen auf Gänsejagd gehen.
Ich hatte sogar darüber nachgedacht, wie die Amerikaner Remlinger wohl ansprechen würden. Auf ein Wort, im Vorbeigehen in der Hotelhalle; eine Ansage von Jepps, wenn Remlinger nach draußen zu seinem Wagen ging. »Können wir beide mal mit
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