Kanada
peitschenden Oktoberwind, sondern an einem sonnigen Tag Ende August, unter blauem Himmel – wie damals, als ich hier angekommen war. Jepps hatte mir seine große Hand auf die Schulter gelegt. Sie wollten wissen, ob ich mit Arthur Remlinger verwandt sei; ob ich Amerikaner sei; warum ich hier in Kanada sei statt in der Schule, wo ich hingehörte; wo meine Eltern seien; was mit diesem Remlinger los sei; ob er verheiratet sei; ob ich etwas über seine Herkunft wisse; ob er eine Pistole besitze.
In den letzten Minuten meines Wachseins fielen mir die Antworten auf diese Fragen nicht ein, abgesehen von der Pistole, und ich machte mir deshalb auch keine Sorgen. Bald schlief ich, glaubte aber eine Zeitlang – das passierte mir öfter –, dass ich noch gar nicht schlief. Allerdings »erwachte« ich plötzlich spät in der Nacht und hörte Kühe im Schlachthaus, die stöhnend auf den Morgen warteten, und ein Truck knurrte und schaltete an der Ampel vor dem Hotel runter. Alles wirkte so, wie es sein sollte. Ich schlief wieder ein, die wenigen Stunden, die ich noch hatte.
61
Der nächste Tag, Freitag, der 14. Oktober, wird mir immer als der außergewöhnlichste Tag meines Lebens in Erinnerung bleiben – wegen seines Ausgangs. Zum größten Teil verlief er allerdings erst mal so wie andere Tage damals auch. Den ganzen Morgen dachte ich an die Amerikaner draußen im Überlaufhaus und später in Fort Royal, ich sah sie durch den kalten Tag spazieren, an dem es erst schneite, dann regnete, dann wieder schneite. Der Wind peitschte gegen die Hängeampel, Eis überkrustete die Bordsteine, und die Menschen blieben in ihren Häusern, wenn es irgend ging. Ich hatte keine Ahnung, was die Amerikaner tun würden, was sich ereignen würde. In dem rötlich-schmierigen Vormittagslicht gab ich mein »umgekehrtes Denken« komplett auf – dass sie nicht wären, wer sie waren, dass Remlinger nicht wäre, wer er war (ein Mörder nämlich), oder dass die beiden ihre Mission aufgeben würden. Charley hatte doch gesagt, die beiden rechneten eigentlich nicht damit, dass Remlinger der Gesuchte sei. Wahrscheinlich wussten sie also gar nicht genau, was sie tun sollten, falls sie ihn für schuldig hielten. Vielleicht überlegten sie sich das gerade jetzt. Charley hatte angedeutet – glaubte ich zumindest –, dass sie beschließen könnten, ihn zu töten, und dafür Waffen mitgebracht hatten; oder ihn zu kidnappen und einem Richter in Michigan vorzuführen. Aber das passte nicht zu ihrem Wesen und dem guten Willen, den sie alle drei in der Bar demonstriert hatten. All das ergab kein klares Bild, sosehr ich den ganzen Tag darüber nachdachte. Die Gedanken setzten ein ständiges Surren in meinem Magen und unter den Rippen in Gang, das mir mitteilte, dass etwas Bedeutsames passieren würde und ich achtsam sein musste.
Vor Tagesanbruch brachten Charley und ich unsere Sportsfreunde in die Weizenfelder. Ich saß im Truck und zählte die fallenden Gänse in der Nähe der drei Lockvögel. Charley besuchte die Grubenreihen und machte seine Rufe, wobei der niedrige Himmel, der Schnee und der Wind die Gänse ohnehin flach vom Fluss her aufsteigen ließen, sie konnten die Lockvögel auch schlechter erkennen, und viele wurden abgeschossen. Charley und ich standen danach wie immer in der Nissenhütte und nahmen die Kadaver aus. Mir fiel auf, dass der schwarze Chrysler der Amerikaner nicht vor dem Schuppen parkte. Was mich annehmen ließ, sie seien vielleicht abgereist.
Doch Charley berichtete, dass Remlinger ihn angewiesen hatte, am nächsten Morgen die beiden Amerikaner zu den Gruben mitzunehmen und ihnen gute Plätze zu geben. Eine der Gruppen aus Toronto war abgereist, wir konnten sie also unterbringen. Sie hatten ihre Waffen und Jagdzubehör dabei und wollten mit. Ich fragte weiter nicht nach ihnen: welchen Eindruck Charley auf der Fahrt ins Überlaufhaus von ihnen bekommen habe; oder was Remlinger zu erkennen gegeben habe, als er Charley seine Anweisungen erteilte. Charley war übelgelaunt und machte einige seltsame Bemerkungen, während wir arbeiteten. Etwa: »Viele tapfere Männer haben was am Kopf abgekriegt«, oder: »Man kommt nicht leicht durchs Leben, ohne jemanden umzubringen.« Er hatte ja oft schlechte Laune und ließ nicht erkennen, warum, höchstens dass er seine schlimme Kindheit beklagte oder seine Verdauungsprobleme. Besser, man provozierte ihn nicht, ich wollte mich schließlich in meinen eigenen Ansichten nicht von seinem Griesgram und
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