Kanaken-Gandhi
Schließlich habe ich Medizin studiert.«
»Was, Sie sind ein Arzt und fahren Taxi?«
»Logo! Alle ausländischen Taxifahrer sind hier entweder Ärzte, Ingenieure oder Rechtsanwälte. Aber sagen Sie doch mal, was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Mir haben sie in der Straßenbahn gerade ein Ohr abgeschnitten! »
»Wieso, sind Sie schwarzgefahren? Wenn Sie wollen, kann ich es hier sofort im Wagen wieder annähen, Herr van Gogh! »
»Nein, nein, fahren Sie mich nur schnell zum nächsten Krankenhaus! Aber es ist schon beruhigend, dass ein Arzt in meiner Nähe ist.«
»Und bei der Rückfahrt können Sie sich beim Taxiruf einen Rechtsanwalt bestellen. »
Während ich vor dem Krankenhaus schnell aussteige, sage ich zum Fahrer: »Tut mir leid, ich habe kein Geld dabei. Aber wenn Sie hier einen Moment warten wollen, dann können wir zusammen nach Hause fahren und ich kann Ihnen das Fahrgeld geben.«
»Aber beeilen Sie sich, Herr van Gogh, das Taxameter ist bereits auf 21 Mark 30! Ich lass’ die Uhr laufen!«
Im Krankenhaus ziehen mich die Krankenschwestern gleich aus und packen mich auf den Operationstisch.
»Wo haben Sie denn Ihr Ohr gelassen?« fragt mich der Arzt,
»ich hab’s eilig, ich muss gleich noch zwei
Nierenverpflanzungen und eine Herztransplantation durchführen!« »In meiner Jackentasche dort drüben«, stöhne ich halb wahnsinnig vor Schmerzen.
Die hübsche, blonde Schwester holt es sogleich.
»Mann, Sie wollen doch bestimmt nicht, dass ich Ihnen das hässliche Ding da annähe?« ruft der Arzt angewidert. »Doch, doch, das trage ich schon über 50 Jahre, man gewöhnt sich dran.«
1n dem Moment sehe ich mit Entsetzen, dass er ein Stück vergammelte Knoblauchwurst in der Hand hält. »Oh, nein, das doch nicht! Das muss aus meinem alten Pausenbrot gefallen sein. Schauen Sie bitte in der anderen Tasche nach«, stöhne ich und stopfe mir die Knoblauchwurst in den Mund. Ich kaue demonstrativ gründlich, um zu beweisen, dass dies nicht mein Ohr sein kann.
»Igitt, ein Kannibale, der Kerl hat sein eigenes Ohr aufgefressen«, kreischt die blonde Schwester hysterisch. »Mann, im OP darf nicht gegessen werden! Außerdem könnten Sie ruhig warten, bis ich hier fertig bin. Sie stinken ja aus allen Knopflöchern nach Knoblauch; inklusive Ihrem Ohrloch«, schimpft der Arzt.
Da kommt die Oberschwester auch schon mit meinem richtigen Ohr angelaufen.
Ich bin bestimmt einer der ersten Menschen, die sich tierisch über ein Wiedersehen mit ihrem rechten Ohr freuen.
»Allah sei Dank«, flüstere ich erleichtert und falle vor lauter Schmerzen, Aufregung und Freude über das glückliche Auftauchen meines verlorengegangenen Ohres in Ohnmacht.
»Nein, Herr Engin, und noch mal nein! Sehen Sie es endlich ein, mit nur einem Ohr auf der linken Seite dürfen Sie in Deutschland nicht leben. Schauen Sie sich doch um, hier bei uns haben alle Menschen zwei Ohren. Und Sie wollen mit nur einem Ohr dazugehören’?« ruft Frau Kottzmeyer-Göhelsberg energisch.
»Aber als ich damals in der Türkei von deutschen Ärzten untersucht worden bin, da hatte ich noch beide Ohren. Glauben Sie mir bitte, die hätten mich sonst niemals kommen lassen!«
»Wer weiß, vielleicht waren Ihre beiden Ohren genauso gefälscht wie Ihr Urin. Es tut mir leid, Herr Engin, in sechs Tagen müssen Sie Deutschland verlassen haben. Hier haben wir keinen Platz für einohrige Monster!«
Der Beamte am Schreibtisch gegenüber zeigt mir demonstrativ seine beiden Lauscher.
»Arsch mit Ohren!« rufe ich.
»Frau Kottzmeyer-Göbelsherg, haben Sie doch ein bisschen Geduld, vielleic ht wächst das rechte Ohr ja wieder nach!«
Aber ihre Miene verfinstert sich, ihr Ton wird scharf: »Warten Sie in der Abschiebehaft darauf’«
In dem Moment packen mich zwei kräftige Polizeibeamte fest an den Armen. Ein Polizist drückt besonders fest meine Hand.
Total verschwitzt wache ich im Krankenhaus aus meiner Bewusstlosigkeit auf und blicke in die besorgten Augen meines Taxifahrers, der neben meinem Bett sitzt und meine Hand hält.
Ich bin überglücklich, dass alles nur ein böser Traum war. Doch dann fällt mir die Realität ein: Leider ist die auch nicht viel besser!
»Wachen Sie auf, Herr van Gogh, wachen Sie auf«, brüllt mir der Taxifahrer in mein frisch montiertes Ohr, »meine Schicht ist um. Ich muss das Taxi zurückbringen. Sie schulden mir jetzt schon über 900 Mark!«
Montag, 18. Juni, 19:37 Uhr
Den ganzen Kopf mit Binden umwickelt wie mit einem
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