Kanaken-Gandhi
wichtige Rolle! Schon wieder das Stierkampf-Syndrom! Mit einem Ruck ziehe ich den Verband endgültig bis zum Kinn runter, um mein ganzes Gesicht zu verstecken. Ich kann nichts mehr sehen. Gerne wäre ich jetzt ein Vogel Strauß, um meinen Kopf in der Erde verstecken zu können! Wie bewundere ich doch den Westernhelden, der letzte Woche im Fernsehen grinsend vor seinem Steckbrief stand und ihn mit mehreren Kugeln durchlöcherte. Anschließend hat er ganz
selbstverständlich den Rauch seines Revolvers lässig weggepustet. Aber im Wilden Westen war es auch viel einfacher, sich darüber lustig zu machen. Da wurde doch jeder zweite steckbrieflich gesucht. Aber in Deutschland bin ich anscheinend zur Zeit der einzige Mensch, der so gesucht wird.
Für zwei, drei Sekunden habe ich ganz schlimme, ganz radikale Gedanken, aber leider ist das hier kein Flugzeug, sondern eine ganz gewöhnliche Straßenbahn. Und mit einer Straßenbahn-entführung komme ich bestimmt nicht weit! An der nächsten Haltestelle springe ich blitzartig raus und renne prompt gegen einen Laternenpfahl. Die Wucht des Aufpralls schleudert mich wieder zurück in die Straßenbahntür.
»Entscheiden Sie sich mal, wollen Sie nun aussteigen oder nicht?« tönt es hinter mir von einer älteren Kopfgeldjägerin.
»Ich würd’ ja gerne aussteigen, aber diese ganzen Laternenpfeiler stellen sich mir immer absichtlich in den Weg!«
stöhne ich mit merklich dicker werdender Beule an der Stirn.
Aber augenblicklich werde ich still. Ich will doch nicht den ganzen Kopfgeldjägern die einmalige Chance geben, mich an meiner markanten Stimme zu erkennen. Aber ich habe noch Glück im Unglück gehabt. Mein großer, bis zu den Augen runtergezogener Verband hat dem Zusammenstoß die Wucht genommen. Mein Turban hat sozusagen als Airbag fungiert. Ein zierliches Händchen zupft an meinem Ärmel, und eine dünne Stimme ruft:
»Komm, Opa, ich bringe dich rüber auf die andere Straßenseite, wenn du nicht sehen kannst.«
Unter dem Verband hervor kann ich sehen, dass das kleine Mädchen, dass mich an der Hand hält, unmöglich hinter der Belohnung her sein kann. Die niedliche Kleine ist so klein, dass sie mit Sicherheit keine Steckbriefe liest. Sie trägt so dicke Brillengläser, dass sie die Steckbriefe garantiert nicht gesehen haben kann. Beruhigt ziehe ich den Verband noch weiter herunter und lasse mich von dem guterzogenen Kind über die Straße führen. Warum wird diese grässliche Welt nicht von Kindern regiert? Kinder kennen keine Vorurteile, sie haben keine schlechten Hintergedanken und sind voller Unschuld.
»So, hier bist du sicher, Opa!«
»Oh, das war nett von dir, ich danke dir, mein Kind!« antworte ich zu Tränen gerührt.
Nur Sekunden später höre ich mehrere Autoreifen quietschen und Dutzende von Autos hupen:
»Verpiss dich, du Blindfisch!«
»Hau ab, du Zombie!«
»Wenn du dich unbedingt umbringen willst, dann mach das doch zu Hause und belästige nicht andere Leute damit«, brüllen mich irgendwelche Leute von allen Seiten an.
Als ich dann auch noch das scheppernde Geräusch ineinanderkrachender Autos höre, reiße ich den Turban hoch, um die Situation zu überblicken. Noch schneller ziehe ich den Verband wieder nach unten.
Das Bild um mich herum ist so schrecklich, dass ich es gar nicht sehen will. Ich stehe mitten auf der Kreuzung der beiden meistbefahrenen Schnellstraßen der Stadt. Ich bin total umzingelt. Hunderte von Autos, die kreuz und quer stehen, haben mich eingekreist. Als ich dann auch noch mehrere Polizeisirenen höre, gebe ich auf. Ich schiebe meinen Turban nach oben und strecke die Hände in den Himmel! Es hat doch alles keinen Sinn. Die Kopfgeldjäger haben mich also doch erwischt.
Ich stehe eine ganze Weile so, mit erhobenen Händen, mitten auf der Kreuzung rum, aber die Polizeiwagen kommen wegen der vielen querstehenden Autos nicht durch. Da wittere ich meine Chance und renne los! Ich renne um mein Leben, wie ein olympischer Hürdenläufer auf der 5.000-Meter-Hindernisstrecke springe ich über mehrere Motorhauben, klettere über Autodächer und stoße alle Leute weg, die sich mir in den Weg stellen wollen. Im Rennen stoße ich systematisch alles um, was nicht niet- und nagelfest ist: Mülltonnen, Koffer, Gemüsestände, Fahrräder, Bauzäune mit meinen Plakaten drauf, Hunde, Katzen
- alles, um den Kopfgeldjägern die Verfolgung zu erschweren.
Immer wenn die Polizei mir nachjagt, hin ich zu absoluten Spitzenleistungen fähig. Denn
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