Kanaken-Gandhi
träumen darf.«
»Hier wird nicht geschlafen!«
Mit einem Ruck setze ich mich aufrecht auf den Zementblock und starre zum Guckloch in der Tür. So kann jeder merken, dass ich wach hin und nicht schlafe.
Kaum geht das Guckloch zu, fallen meine Augenlider wieder runter. Was kann ich in dieser kahlen Zelle bloß anstellen, um wach zu bleiben? Ich fange an, mir jeden Film
wiederzuerzählen. den ich gesehen habe und an den ich mich erinnern kann. »Was laberst du denn die ganze Zeit?« fragt mich der Wärter verärgert, nachdem er alle Schlösser nacheinander aufgeschlossen hat.
»Wieso, habe ich was gesagt?«
»Willst du mich hier auf den Arm nehmen? Oder drehst du Spinner nach ein paar Stunden scho n durch? Das ging aber schnell!«
»Ich rede nur mit mir selbst, damit ich nicht einschlafe. Das wolltet ihr doch.«
»In meinem Flur wird nicht gesprochen, in meinem Flur wird nicht geschlafen! Hier herrscht Ordnung, ist das jetzt klar?!«
Dann macht er seine Taschenlampe aus und schließt alle Schlösser von außen wieder ab. Schlagartig sitze ich wieder im Dunkeln und bin mit mir wieder ganz allein. Eigentlich ist das hier ja nie richtig langweilig.
Ich setze mich auf meine Betonpritsche, lehne meinen Rücken an die kühle Wand, lausche diesen herrlichen Tönen und lasse mich von diesem lieblichen Duft betören. Dann drehe ich mich ganz locker zur Seite und knöpfe meine graue Hose auf. Wenn ich schon im Klo wohnen muss, dann kann ich mir auch den Luxus leisten, beque m vorn Bett aus zu pinkeln. Zu Hause dürfte ich das nicht mal im Stehen. Ich lehne mich wieder zurück an die Wand. Ich habe seit Tagen nicht richtig geschlafen, und die Müdigkeit kommt mit solcher Macht über mich, dass mir die Ermahnungen der Wärter egal sind. Ich erinnere mich an gute alte Zeiten, wo ich mit meinem Ford-Transit und der ganzen Familie in die Heimat gefahren bin. Auf den Landstraßen in Jugoslawien und Bulgarien hin ich nachts beim Fahren permanent eingeschlafen. Ich bin dann mehrfach durch den Gegenverkehr geweckt worden. Es gab einen lauten Knall, und ich hatte zum Glück nur einen Außenspiegel weniger. Aber ich habe auch genug Ford-Transits gesehen, die hinterher aussahen wie ein Akkordeon.
Viel größer als diese Zelle war mein alter Bus auch nicht. Die Atemluft war auch nicht viel besser bei sechs Personen, die darin schliefen. Aber zum Glück hat dort auch keiner im Liegen gepinkelt, außer meiner Tochter Hatice, die noch in den Windeln lag. Nach tagelangem Fahren wurden die Augenlider immer schwerer und schwerer. Das Summen des Motors wurde zu einem Gute-Nacht-Lied. Die ganze Umgebung interessierte einen nicht mehr, egal oh es eine Landstraße in Jugoslawien oder in Bulgarien war. Und in diesen sozialistischen Ländern war es für Türkeireisende während der Durchfahrt genauso verboten zu schlafen wie in dieser Zelle. Mir haben sie auf einem Parkplatz bei Belgrad mal in fünf Minuten vier Räder abmontiert. Hundert Meter weiter wurde mir dann aber doch ein fairer Tausch angeboten. Ich könnte vier neue Räder bekommen, die rein zufällig aussahen wie meine eigenen, wenn ich dafür den Halunken meinen alten Autokassettenrekorder mit Lautsprecherboxen und 27 Kassetten überließ. Meine Töchter haben sich anfangs vehement gegen dieses Tauschgeschäft gewehrt. Sie sagten, sie würden lieber hier auf diesem Parkplatz gemeinsam mit ihren geliebten Kassetten einen Urlaub verbringen, als in der Türkei irgendwelchen Verwandten, die sie gar nicht kennen, bei der Gurkenernte zu helfen. Aber ich habe sie dann doch mit dem Argument überzeugen können, dass wir die Autoräder auch für die Rückfahrt dringend brauchen.
Meinen alten Freund Selim hat es da erheblich schlimmer erwischt. Auf dem Dachgepäckträger transportierte er in einem selbstgebauten Sarg seinen toten Vater in die Heimat. Irgendwo kurz vor der bulgarischen Grenze machte er eine kleine Pause von zwei Minuten, und schon war der selbstgebaute Sarg samt totem Vater verschwunden. Den ganzen Tag lief er durch die Gegend, um die Leiche wiederzufinden. Schließlich wartete die gesamte Sippschaft in der Türkei, um den Vater in allen Ehren zu beerdigen. Am Abend fand er dann den Sarg. Aber sein Vater war verschwunden. Und stattdessen lag die Leiche einer fremden alten Frau darin. Vermutlich konnte man Selims Vater noch gebrauchen, weil er sehr viele Goldzähne im Mund hatte.
Das war einer der wahren Hintergründe des Bosnienkrieges, weil die Serben dadurch erfuhren,
Weitere Kostenlose Bücher