Kanal-Zombies
Geräusche. Zuerst dachte sie, es wäre ein Lachen. Dann stellte sie fest, dass ihr Freund schluchzte und sein Körper dabei regelrecht durchgeschüttelt wurde. Er kippte zur Seite und konnte sich gerade noch an der Wand abstützen.
Die junge Frau sagte nichts. Sie fühlte sich wie in einem Glaskasten eingesperrt. Aber der Schock ließ nach, und dann strömte es aus ihr hervor.
Sie hörte sich schreien, wie sie noch nie im ihrem Leben geschrien hatte. Die Angst, der Frust und das gesamte Entsetzen mussten sich einfach freie Bahn verschaffen, sonst wäre sie daran erstickt.
Die Echos der Schreie hallten durch die Unterwelt. Sie drangen hinein in die schmalen und breiten Tunnel. Sie jagten sich gegenseitig nach, sie holten sich ein und kehrten dann als Echos zurück, die in den Ohren der beiden Menschen gellten.
Es war einfach grauenvoll. Ihr Denken, ihr Fühlen, all das war ausgeschaltet. Sie waren nicht mehr als schreiende Marionetten, die jemand dahingestellt hatte.
Ludmilla hatte sich verkrampft. Sie brüllte weiter. Sie hätte bis in alle Ewigkeiten geschrien, wären da nicht plötzlich zwei Hände gewesen, die auf ihren Schultern lagen, sich im dicken Stoff der Jacke festklammerten und sie durchschüttelten. Wie aus weiter Ferne hörte sie Alwin’s Stimme, aber sie glaubte sogar, dass ein Fremder sie anbrüllte. Ludmilla konnte nicht aufhören. Ihr Gesicht hatte sich völlig verändert und schien jetzt einer fremden Person zu gehören.
Zwei Schläge erwischten ihr Gesicht. Radikalmethode. Die rechte und die linke Wange wurden getroffen.
Das Schreien verstummte.
Ludmilla verschluckte sich. Sie schnappte nach Luft und musste in gleichen Moment husten. So beugte sie sich vor, wurde aber von ihrem Freund gehalten, der zugleich noch mit der anderen Hand auf ihren Rücken schlug.
Ludmilla erholte sich wieder. Sie keuchte nur noch und ging nach hinten. Alwin half ihr dabei. Mit dem Rücken drückte er sie gegen die Gangwand, wo sie auf ihren eigenen Füßen und ohne Hilfe stehen blieb.
Ludmilla konnte nicht sprechen, nur heftig atmen und keuchen. Die Augen waren weit geöffnet, aber sie war nicht in der Lage, etwas zu sehen. Tränen verschleierten den Blick, und nur ganz allmählich kehrte sie wieder zurück in die Wirklichkeit und erinnerte sich daran, was geschehen war.
Sie zog den rechten Handschuh aus, holte ein Tuch aus der Tasche, wischte über das Gesicht und die Augen, bevor sie sich kräftig die Nase putzte. Danach ging es ihr etwas besser, und sie konnte auch wieder sprechen.
»Mein Gott«, flüsterte sie, »mein Gott, was ist das nur gewesen, Alwin? Wer hat das getan?«
Alwin war angesprochen worden, aber er fühlte sich nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Totenbleich und starr stand er auf der Stelle, den Blick ins Leere oder nach innen gerichtet. Wie jemand, der nicht mehr wusste, wie es weiterging.
»Wer?«, brüllte Ludmilla. »Wer hat das getan? Verdammt noch mal, du warst dir doch so sicher.«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er.
»Was?«
»Ich weiß es doch nicht, verdammt!«, brüllte er und erschreckte die letzten, in der Nähe lauernden Ratten.
Ludmilla stöhnte auf. Noch immer waren ihre Knie weich, und sie war froh, die Wand als Stütze im Rücken zu haben, sonst wäre sie zusammengebrochen.
Alwin nahm sie in die Arme. Er hätte ihr soviel sagen wollen, aber seine Stimme versagte. Auch er wünschte sich weit weg, nur war das nicht möglich. Er musste bleiben, und er musste auch dem Grauen ins Auge sehen.
Das blutige Gebilde in seiner Nähe war mal ein Mensch gewesen. Sogar ein Mensch, der mal sein Freund gewesen war, und das schon seit einigen Jahren.
Jetzt war er tot.
Und wie tot er war.
Für Alwin war es nicht nachvollziehbar, wie jemand auf eine derartige Art und Weise umgebracht werden konnte. Es war ihm unmöglich, sich einen Menschen vorzustellen, der so etwas tat. Das konnte er einfach nicht begreifen.
Er hatte nicht viel gesehen, er wollte den Toten auch nicht unbedingt anleuchten, aber sein Körper war in einen blutigen Klumpen verwandelt worden.
Wieder hörte er sich selbst schluchzen und dann nach Luft ringen. Ludmilla zitterte. Sie hatte das Gesicht an seine Schulter gepresst. Sie war noch stärker geschockt als er, aber da mussten sie durch. Es gab keine andere Lösung.
Wie lange er mit seiner Freundin in dieser Haltung gestanden hatte, wusste er nicht zu sagen. Irgendwann sprach er ihren Namen aus und musste ihn zwei Mal wiederholen, bevor sie ihm
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