Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
geht bei uns sehr familiär zu.«
»Schön, dass Sie noch etwas frei hatten. Das ist im Hochsommer ja bestimmt nicht selbstverständlich.«
Eine Standuhr tickte von der Diele her. Vor den offenen Fenstern bewegten sich Sonnenblumen sacht im Wind.
»Ein Gast ist überraschend abgereist«, sagte Frau von Dünen schnell.
»Warum denn das?«, fragte Island. »Wo es hier doch so nett ist.«
»Ich genieße es auch, auf Kreihorst zu sein«, antwortete Lena von Dünen, ohne Islands Frage zu beantworten. Geistesabwesend strich sie an ihrem Rock entlang. »Für die Kinder ist es so gut, auf dem Land aufzuwachsen. Man muss nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen. Sie können sich frei entfalten.«
Ein kleines Mädchen kam die Treppe hinab.
»Meine Tochter«, sagte Frau von Dünen nicht ohne Stolz.
Das Kind war etwa sieben Jahre alt, blond und seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Kleine trug ein grünes Sommerkleid und war offenbar viel in der Sonne herumgelaufen, denn sie war auffällig braun gebrannt. Beim Herabsteigen hielt sie sich am Treppengeländer fest und zog das linke Bein, das in einer Schiene steckte, etwas nach. Ohne ein Wort verschwand sie in der Küche, die gegenüber vom Speiseraum lag.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, sagte Frau von Dünen. Sie verließen das Haus durch die Eingangstür und liefen über einen Kiesweg zum Seitenflügel des Hauses. Vor einer grün gestrichenen Stalltür blieb die Verwalterin stehen.
»Es liegt unter dem Dach.«
Eine Holzstiege führte hinauf. Das Zimmer war ein länglicher Raum mit offen liegenden Dachbalken. Es gab ein breites, einfaches Holzbett, einen alten restaurierten Holzschrank sowie einen Tisch mit zwei Sesseln. In einer Abseite befand sich ein Bad mit Toilette, Waschbecken und einer Sitzbadewanne.
»Sieht sehr nett aus«, sagte Island.
»Ich bringe Ihnen schnell Ihr Gepäck hinauf«, entgegnete Frau von Dünen. »Wenn Sie noch etwas brauchen, melden Sie sich bitte. Ich bin dann in der Küche und bereite das Essen vor.«
Island stellte sich ans Gaubenfenster. Von hier aus konnte sie über den verwilderten Obstgarten blicken. Über den Wipfeln sah sie die großen Scheunen und das Herrenhaus, das ihren Blicken bislang verborgen geblieben war. Es sah kaum anders aus als auf der historischen Zeichnung, die sie im Internet gefunden hatte. Es war ein weiß gestrichenes, dreigeschossiges Gebäude mit Seitenflügeln, die, ähnlich wie beim Verwalterhaus, einen weitläufigen Innenhof bildeten.
»Wow«, sagte Island leise, »ein Schloss.«
Sie folgte Frau von Dünen hinunter zu ihrem Wagen und ließ sich von ihr mit der Reisetasche und dem Rucksack helfen. Zurück auf dem Zimmer, packte sie ihre Sachen aus, hängte die Kleider in den Schrank und stellte die Kulturtasche ins Bad. Sie öffnete das halbrunde Badezimmerfenster und sah in den rückwärtigen Garten des Verwalterhauses, ein verwildertes, wildromantisches Gelände mit ungemähtem Rasen. Zwei Jungen von zehn oder elf Jahren waren gerade damit beschäftigt, mit Zwillen und Kieselsteinen nach den Krähennestern zu zielen, die sich im Wipfel einer Birke befanden.
Lümmel, dachte Island. Vielleicht sollte mal jemand auf euch aufpassen.
18
U m die Eigenschaften der Matratze auszuprobieren, legte sich Island der Länge nach aufs Bett. Es lag sich gut mit dem Kopf auf den bequemen Kissen, die nach frischer, im Wind getrockneter Wäsche rochen. Durch die offenen Fenster strömte warme Sommerluft herein. Sie lauschte dem beruhigenden Zwitschern der Vögel und dem Säuseln des Windes.
Als sie erwachte, war es kurz vor achtzehn Uhr. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Beim Blick durch das Badezimmerfenster stellte sie fest, dass inzwischen jemand Wäsche aufgehängt hatte. Es sah idyllisch aus, wie sich die helle Bettwäsche vor dem satten Grün von Gras und Bäumen bewegte, fast wie ein kleines Kunstwerk. Lorenz hätte sicher ein Foto davon gemacht. Aber er war ja so verdammt weit weg.
Sie hatte das Gefühl, dass es nicht mehr nur die räumliche Distanz war, die sie trennte. Er war ihr in den letzten Wochen immer fremder geworden. Nur Telefonieren und ab und zu eine E-Mail reichten nicht. Sie hätte ihn gern bei sich gehabt. Es gab so vieles, was sie mit ihm teilen wollte. Beim Gedanken daran bekam sie schlechte Laune. Wie würde ihm ein Ausflug aufs Land gefallen? Würde er es schön finden, oder würde er es mit seiner Berliner Großstadtarroganz, die ihr selbst ja nicht fremd
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