Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
das?«
»Jeder Gast in diesem Haus darf sich einmal das Gutshaus ansehen. Da ist die Familie Tüx total großzügig. Wenn man Glück hat, bekommt man sogar eine richtige Schlossführung. Alles tipptopp in Schuss.« Und schon schwärmte Frau Huber von der einmaligen Besichtigung, die sie vor Kurzem erlebt hatte.
»Haben Sie eigentlich auch das berühmte Archiv gesehen?«, wollte Lotti Dormann wissen und schob als Letzte ihre Kompottschale von sich. »Das ist ja sonst nicht zugänglich. Darin sollte es doch einen ganz berühmten Briefwechsel zwischen Kaiser Wilhelm und Bismarck geben.«
»Kurz reingeschaut«, nickte Rita Huber. »Aber da gab es nur lauter langweilige Pappkartons und bröselige Papierstapel, die in Stahlregalen lagen. Nur die Holzdecke der Archivkammer war ganz wunderschön mit Rosen bemalt.«
»Aber was war drin in den Kartons?«, bohrte Frau Dormann nach. »Hat man Ihnen das nicht gezeigt?«
»Keine Ahnung«, sagte Frau Huber, »nur altes Zeug. Es sah wirklich nicht besonders spannend aus.«
Wenig später standen die Hubers vom Tisch auf.
»Bitte entschuldigen Sie, wir wollen heute Abend noch ein bisschen Kultur genießen«, sagte Herr Huber.
»In der Scheune von Gut Emkendorf ist ein sogenanntes Musikfest auf dem Land. Es spielt das Landesjugendorchester im Rahmen des Schleswig-Holstein-Musikfestivals«, erklärte seine Frau.
»Ganz wunderbar«, sagte er. »Man kann vor dem Gutshaus auf dem Rasen picknicken. Wir werden einen Prosecco trinken. Einmalige Stimmung. Das sollten Sie mal machen. Ein tolles Erlebnis.«
»Danke für den Tipp«, sagte Island.
Frau Dormann erhob sich ebenfalls. Ihr Hund tanzte wie wild im Kreis, das arme Tier musste offenbar furchtbar dringend.
»Ich geh mal eine Runde.«
»Darf ich Sie begleiten?«, fragte Island.
Lotti Dormann sah Island überrascht an, aber dann nickte sie erfreut.
19
V or dem Torhaus bogen Island und Frau Dormann auf die unbefestigte Straße ein, die weiter am See entlangführte. Ein Schwarm Krähen versammelte sich wild krächzend auf den knorrigen Weiden. Nach einem halben Kilometer Fußmarsch erreichten die beiden Spaziergängerinnen weitere Gebäude, die, versteckt hinter hohen Pappeln, in den blauen Himmel ragten. Olga Island staunte nicht schlecht, dass ihre Begleiterin auf ihren recht hohen Stöckelschuhen so gut vorankam.
»Das ist der neue Wirtschaftshof des Gutes«, erklärte Frau Dormann.
»Und was wirtschaftet man genau?«
»Frau Rubi-Tüx züchtet Pferde. Andalusier, wenn Ihnen das was sagt. Das Gestüt soll einen exzellenten Ruf haben. Ansonsten wird Obst angebaut: Äpfel, Quitten, Birnen, alles alte Sorten. Für besonders erlesene Biosäfte. Die kriegt man natürlich nur in ausgesuchten Feinkostgeschäften.«
Island deutete auf ein großes, offenbar neu errichtetes Gebäude aus hellem Holz.
»Die Reithalle«, erklärte ihre Begleiterin. »Ihr Boden ist nach den allerneuesten pferdephysiologischen Erkenntnissen zusammengesetzt.«
Die Halle hatte hohe Glasfenster und eine Solaranlage auf dem Dach.
»Sieht fast aus wie eine Kirche.«
»Ja, die Tiere werden hier sehr verehrt. Das dort drüben sind die Ställe.«
Hinter der Reithalle öffnete sich ein großzügiger Platz, der von weiteren Gebäuden umringt war. Auch die Stallungen waren ganz neu. Jedes Pferd hatte die Möglichkeit, einen großzügigen individuellen Auslauf draußen zu benutzen. Schimmel und Schecken standen friedlich in kleinen Gruppen beieinander und dösten in der Abendsonne. Es roch nach frischem Heu und den Ausdünstungen der Tiere. Vertrauter Pferdegeruch.
Zwei junge Frauen waren damit beschäftigt, in einem der Gebäude die Stallgasse zu fegen. Sonnenstrahlen fielen durch das Stalltor und ließen ihre Haare aufleuchten.
Pferdemädchen, dachte Island. Das war ich auch einmal. Es ist schon so viele Jahre her, fast ein halbes Leben. Tante Thea war jedes Mal froh gewesen, wenn ihre Nichte für die Sommerferien auf den Ponyhof zog. Sie hatte sich dann um ihre eigenen Feriengäste gekümmert. In manchen Jahren war es vorgekommen, dass ihre Tante wegen der großen Nachfrage an Ferienbetten Olgas Zimmer auch gleich noch mit vermietet hatte. Irgendwann war Olga aber die mädchenhafte Leidenschaft für Pferde und das Reiten abhandengekommen, sie wusste gar nicht mehr genau, warum eigentlich.
Hufgetrappel riss sie aus ihren Erinnerungen. Zwischen den Stallungen erschien ein weißes Tier, gut gebaut und mit kräftigem Hals. Schaum tropfte aus dem Maul. Im
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