Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
ernstes Wort mit Ihnen zu reden!« Weil diese Stimme ohnehin keine Widerrede duldet, spare ich sie mir.
»Okay …«, murmele ich – und als Antwort wird am anderen Ende einfach aufgelegt.
Verdammt, was ist passiert? Hat diese Julia also tatsächlich ihren Rand nicht halten können? Ehrliches Betriebsklima – dass ich nicht lache! Vielleicht musste ich mich nun wirklich nach einem neuen Job umsehen. Ob so eine Kristallkugel sehr teuer ist? Ich werde später mal nachsehen. Aber erst muss ich zu meiner persönlichen Hinrichtung.
Den ganzen Weg von meiner Wohnung bis zum Verlagshaus schlottern meine Knie. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, wovor ich mich fürchte. Ich habe außer einem Wischmopp nichts zu verlieren! Und immerhin habe ich die ganze Sache bei vollem Bewusstsein riskiert, also: So what?
Es ist ein komisches Gefühl, am helllichten Tag vor dem Gebäude zu stehen, wenn die ganze Welt bereits wach ist und um einen herum lärmt und lebt. Na ja, das dürfte dann das letzte Mal sein. Schluck.
Ich gehe durch die gläserne Drehtür und das Foyer zu den Aufzügen. Überall wuseln scheinbar wichtige Menschen herum, und schnell haben sich um mich ein paar Leute gesammelt, die mit mir den Lift nach oben benutzen wollen. Mein Magen hat sich immer noch nicht an die Geschwindigkeit des Aufzugs gewöhnt: Wie sonst auch stolpere ich in der obersten Etage aus der Kabine, der Boden gibt unter meinen Füßen nach wie Gummi, und alles um mich herum schwankt bedrohlich. Wie ich diesen Lift hasse! Ihn werde ich bestimmt nicht vermissen! Ich taste mich ein paar Meter an der Wand entlang, bis sich mein Gleichgewichtssinn wieder gefangen hat, und befehle mir dann, einen möglichst souveränen Eindruck zu machen. Also mache ich meinen Rücken gerade, Schultern zurück, Brust raus, mit einem stolzen Blick und einem selbstsicheren Lächeln auf dem Gesicht.
Doch Letzteres lässt sich immer schwerer zur Schau tragen, denn überall in den langen Gängen sehe ich Frauen mit Traummaßen, sehr edel aussehender Designerkleidung und ungespielter Souveränität. Die meisten von ihnen beachten mich gar nicht, sondern stolzieren mit erhobenem Haupt an mir vorüber, meist irgendein Dokument unter ihren Arm geklemmt und einen Becher entkoffeinierten Latte mit fettfreier Sojamilch in den feingliedrigen, mit vielen funkelnden Ringen geschmückten Händen. Die wenigen, die mich doch beachten, mustern mich abschätzend von oben bis unten und scheinen über das, was sie sehen, nicht sehr glücklich zu sein. Dabei trage ich nicht wie üblich meinen Putzkittel, sondern eine knackig sitzende Jeans, meine schwarzen Lieblingspumps und eine dunkle Seidenbluse – und ich habe sogar meine Haare gewaschen und geglättet, bis sie mir seidig glänzend auf die Schultern fallen. Ich weiß also wirklich nicht, was diese giftigen Blicke sollen! Ich kann mir vorstellen, was für eine Stutenbissigkeit hier jeden Tag herrschen muss. Eine Kollegin sägt der anderen am Stuhl, während jede die beste Freundin und Vertraute mimt.
Und schon bevor ich mir meinen Weg durch die Schlangengrube bahne, bin ich zutiefst irritiert: Obwohl reger Betrieb herrscht, ist es nicht viel lebhafter als frühmorgens, wenn ich meine Runden mit dem Wischmopp drehe. Irgendwie wirkt die Redaktion auch tagsüber genauso charakterlos, beinahe tot. Aalglatt, eine schöne Fassade, das ja, aber es ist die trügerische Schönheit eines Vampirs, der dich auszusaugen droht.
Dann setze ich mich endlich in Bewegung und gehe zum Empfang der Stunning Looks. Eine Frau mit langen künstlichen Fingernägeln und Headset sitzt hinter einem hohen Tresen und trommelt mit rasender Geschwindigkeit über eine Tastatur, ohne den Blick auch nur ein einziges Mal vom Bildschirm ihres Computers zu lösen. Ich überlege kurz. Soll ich einfach an ihr vorbeigehen? Immerhin kenne ich den Weg zu Evelyn Kerns Büro, ich putze es schließlich jeden Tag. Aber andererseits bin ich heute nicht zum Putzen hier …
Ich räuspere mich. »Verzeihung …«
Sie beachtet mich nicht.
Ich räuspere mich etwas lauter.
Ein Telefon klingelt, die Dame am Empfang drückt auf irgendeine Taste und flötet dann mit falscher Fröhlichkeit in ihr Headset: »Stunning Looks, Sie sprechen mit Frau Jung, was kann ich für Sie tun?« Sie hört zu, lacht dann gekünstelt, zwitschert irgendwas in ihr Headset und drückt dann wieder eine Taste. Sofort versinkt sie wieder in ihrem Bildschirm, und ihre Finger mit den langen künstlichen Nägeln
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