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Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)

Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)

Titel: Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mina Wolf
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Rückzug anzutreten und die beiden miteinander alleine zu lassen. Heimlich stehle ich mich aus dem Zimmer und fahre mit dem Aufzug hinunter zum Ausgang. Dann werfe ich einen Blick in mein Portemonnaie und gehe zu einem der am Straßenrand wartenden Taxis hinüber. Ich finde, diesen Luxus kann ich mir nach der ganzen Aufregung ruhig gönnen.
    Zu Hause tausche ich meine unbequemen High Heels gegen ausgetretene Sneakers und leine Caruso an. Ich kann einfach noch nicht schlafen, ich muss noch eine Runde um den Block drehen.
    Eine tolle Woche ist das für mich, das kann man wohl sagen: Erst verliere ich meinen Job und jetzt wahrscheinlich auch noch meinen besten Freund. Und warum das alles? Wegen meiner eigenen Dummheit! Alles ist meine Schuld! Verdammt!
    Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und kicke einen Kieselstein vom Gehweg. Dann sehe ich zum Himmel hinauf, der sich schon langsam heller färbt, und denke nach. Die Sache mit meinem Job ist das geringere Übel. Sicher, ich stehe jetzt wieder ohne Geld auf der Straße, aber mein Job als Putzfrau hatte ohnehin keine Zukunft. Vielmehr geht es mir um die Stunning Looks. Ein Traum ist geplatzt, eine in vielen Farbfacetten schimmernde Seifenblase, die federleicht und glänzend vor meinen Augen durch die Luft geschwebt war. Plopp – weg ist sie. Und dann der Verrat dieser hinterhältigen Redakteurin! Mein Stolz ist gekränkt, ganz eindeutig. Wenn ich daran denke, beginnt mir noch jetzt das Blut in den Ohren zu rauschen vor Wut.
    Am schlimmsten aber ist für mich die Schmach vor der Chefredakteurin. Jahrelang hatte ich mir die Szene ausgemalt, in der ich Evelyn Kern zum ersten Mal begegne: Wie ich ihr gegenübersitze, ein Gespräch zwischen Kolleginnen, Profis auf ihrem Gebiet. Wertschätzung, Respekt, das Angebot einer Beförderung … Und jetzt das! Die Scham treibt mir noch jetzt die Röte ins Gesicht. Für Evelyn Kern bin ich eine Witzfigur, eine junge Frau, die ihr Leben nicht in den Griff kriegt und sich für etwas Besseres hält, obwohl sie nichts kann und nichts zu bieten hat. »Übernimm dich mal nicht, Kind«, wird sie sich gedacht haben, »Karrieren wie meine basieren nicht auf Tagträumereien, sondern auf harter Arbeit und Durchsetzungsvermögen.«
    Wie hat Salvador Dalí mal gesagt? Wer heutzutage Karriere machen will, muss schon ein bisschen Menschenfresser sein. Evelyn Kern ist der typische Menschenfresser. Eine Kannibalin mit klimpernden Armreifen und festgefrorenem Lächeln.
    Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das an mir nagt, sich mit kleinen gierigen Zähnchen von meinem Magen zu meinem Herzen vorarbeitet. Ich kann diese Empfindung erst nicht deuten, es fühlt sich so komisch an. Aber als ich mich darauf konzentriere, erscheint ganz plötzlich Jans vertrautes Gesicht vor meinen Augen.

Waschbären und Heißwachs
     
    Fast zwei Wochen ist der Zwischenfall mit dem Kuss jetzt her, und genauso lange habe ich mit Jan nicht mehr gesprochen. Ab und zu treffen wir uns im Treppenhaus oder wenn ich die Jungs-WG besuche, aber wir gehen uns aus dem Weg und versuchen, Situationen zu vermeiden, in denen wir miteinander alleine sind. Mehr als ein »Hallo« oder ein »Tschüss« und betretene Blicke sind nicht drin. Ich hoffe inständig, dass Stephan, Andy und Nina diese Veränderung verborgen bleibt, aber ich glaube kaum, dass sie so blind sind. Immerhin kennt mich jeder einzelne von ihnen schon seit Jahren, und die gute Freundschaft zwischen mir und Jan ist allen ebenso bekannt.
    Ich weiß immer noch nicht, wie ich mich eigentlich genau fühle. Einerseits bin ich traurig und habe Angst, dass zwischen mir und ihm jetzt alles kaputt sein könnte und es nie wieder so werden kann wie früher. Andererseits bin ich jedes Mal peinlich berührt, wenn ich an die ganze Situation denke, und schäme mich wegen dieses Ausrutschers. Und dann ist da noch dieses komische Gefühl, dass ich mich um ihn kümmern möchte. Zum Beispiel als wir uns neulich im Waschkeller zufällig begegnet sind und er hilflos vor der Maschine sitzt, weil er nicht weiß, wie man eine einfache Ladung Buntwäsche wäscht, ohne sie auf Kindergröße zu schrumpfen. Oder wenn er unten an den Briefkästen steht, die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen, und sich über einen Stapel Rechnungen ärgert. Oder wenn ich von einem Gassigang mit Caruso wiederkomme und er vor der Tür steht, weil er seine Wohnungsschlüssel einfach nicht finden kann.
    Dann stehen wir uns gegenüber, sehen einander an,

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