Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
stottern rum, werden nervös und mutieren innerhalb weniger Sekunden zu absoluten Volltrotteln. Mein Herzschlag beschleunigt sich in diesen Fällen von 0 auf 100, und meine Hände fangen sofort an zu zittern. Ich fühle mich in solchen Momenten wieder wie in der 6. Klasse: Zum Beispiel als der süße Ben aus der Stufe über mir meinen Blick gekreuzt oder mir sogar zugelächelt hat. Aber dann ist er mit Nadine zusammengekommen, ich war totunglücklich – und Jan hat sich mit Ben geprügelt, obwohl er ein Jahr jünger war. Und dann hat er mir am Schulkiosk einen Mr.-Tom-Riegel gekauft, ich durfte seine Schrammen bewundern, und die Welt war wieder in Ordnung.
Ich vermisse Jan. Ob ich ihm auch ein bisschen fehle?
Doch nicht nur mein Gefühlsleben steht Kopf, auch meine Berufswelt macht mir momentan einen dicken Strich durch die Rechnung. Dass das Leben kein Ponyhof ist, muss ich gerade wieder am eigenen Leib erfahren, als ich einen dicken Packen Absagen aus meinem Briefkasten fische. Studienabbrecher haben es einfach schwer, da kann man sagen, was man will. Zumindest, wenn man zuvor noch keine Arbeitserfahrung gesammelt hat. Dann hat man ganz schlechte Karten.
Vielleicht sollte ich es diesen Hausfrauen im Fernsehen nachmachen, die mit strähnigen Haaren und Plateauturnschuhen bei »Olli Geissen«, »Britt« und Co. sitzen und ihren Babyspeck rechts und links von den schmalen Plastikstühlen quellen lassen. Dabei erzählen sie stolz, wie sie sich nach vermasselter Ausbildung ein Kind haben machen lassen und jetzt vom mickrigen Unterhalt des UPS-Fahrers leben, der sich vor einem Jahr in einem Anfall von Irrsinn dazu verleiten ließ, besagtem Talkgast eine Chantal oder einen Kevin zu machen. Außerdem ist das Kindergeld fast so hoch wie ein Ausbildungsgehalt. Wozu also die heimische Couch verlassen, außer um sich eben eine neue Schachtel Kippen zu holen? Ich stelle mir dieses Leben sehr friedlich vor: den ganzen Tag im gefälschten Ed-Hardy-Trainingsanzug vor der Glotze hängen, bei QVC ein Window-Color-Set oder eine Uschi-Glas-Pflegecreme bestellen, Kette rauchen, zwischendurch Chantal und Kevin eine Dose Ravioli aufmachen, anstatt mitzuessen einen Liter Pepsi trinken und alle halbe Stunde die Kinder anschreien, sie sollen aufhören, sich zu bespucken und stattdessen lieber eine Runde Playstation spielen.
Ich seufze und steige die Stufen zu meiner Wohnung hinauf, nicht jedoch ohne den Stapel Absagen in die Papiertonne gedrückt und lautstark den Deckel zugeschlagen zu haben. Irgendwie sehne ich mich nach Gesellschaft. Vielleicht sollte ich gleich mal Nina anrufen, aber diese treulose Tomate hat sich nach ihrer Allergie gegen Andys Muschelsauce und dem damit verbundenen Krankenhausaufenthalt kaum mehr bei mir gemeldet, und ich würde zu gerne wissen, ob die beiden jetzt zueinandergefunden haben oder nicht. Außerdem brauche ich Ablenkung – denn wenn ich mich noch länger in Selbstmitleid bade, kann ich mich gleich mit einem Schnürsenkel an meiner Wohnzimmerlampe aufhängen.
Ich will zum Telefon greifen, die treulose Tomate Nina anrufen, da stelle ich fest, dass mein Anrufbeantworter blinkt. Ach, es gibt also tatsächlich Leute, die sich noch für mich interessieren? Ich drücke gespannt den Knopf.
»Sie haben vier neue Nachrichten«, verkündet eine blecherne Stimme. »Erste Nachricht, heute, 8 Uhr 15: Hallo Schnuppel, hier ist Mama. Dass du deine arme, alte Mutter so vernachlässigst, ist echt nicht nett! Weißt du, wann du das letzte Mal bei uns zu Besuch warst? Da war Gerhard Schröder noch Bundeskanzler! Wäre schön, wenn du uns wenigstens mal wieder mit einem Anruf beehren würdest. Und was ist eigentlich mit deinem neuen Job? Dein Bruder hat mir irgendwas von Gebäudemanagement erzählt. Stimmt das oder hat er mich nur wieder auf den Arm genommen? Na ja, meld dich einfach! Bis dann. Bussi! « Piiieep. Gebäudemanagement? Vielen Dank, Bruderherz!
»Zweite Nachricht, heute, 8 Uhr 25: Hallo Schnuppel, hier ist noch mal Mama. Ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen, dass ich gestern beim Einkaufen Frau Paschulke von nebenan getroffen habe. Weißt du noch? Du hast früher immer mit ihrer Tochter Sonja gespielt, die hat ihrer Mutter ein Enkelchen geschenkt! Einen kleinen Bub! Frau Paschulke hat mich gefragt, wann ich denn Oma werde, aber ich hab ihr gesagt, dass dein Bruder so in der Arbeit eingespannt ist und du … Na ja, der Mann, der deine Macken erträgt, muss wohl erst noch gebacken werden. Frau
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