Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
Kornblumen im Spätsommer, und an das süße Kräuseln seiner Nase, wenn er lacht. Sofort fängt mein Bauch an zu kribbeln, ein hauchzartes Gefühl, fast wie ein Marienkäfer, der über meine Hand krabbelt, und sofort breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Okay, es ist wirklich nicht zu leugnen, dass ich etwas für ihn empfinde. Und ja, ich vermisse ihn. Und zwar ziemlich!
Und was ist mit Jan? Schon bei dem Gedanken an seinen Namen versetzt es meinem Herzen einen Stich, und wie so oft brennen sofort Tränen in meinen Augen. Jan. Mein Jan. Und vor mir sehe ich das kleine Muttermal in seiner Handfläche. Die grünbraunen Augen, die sich verdunkeln, wenn er traurig ist – oder wie Bernstein funkeln, wenn er sich ehrlich über etwas freut. Seine Kurzsichtigkeit, gepaart mit der Eitelkeit, keine Brille tragen zu wollen. Kein Chili con Carne, das besser schmecken würde als seines. Seine Tränen, jedes Mal wenn er Das Streben nach Glück auf DVD anschaut, und der Staub, der ihm dabei angeblich immer in die Augen kommt. Sein Blick, der selbstbewusst geradeaus gerichtet ist und anderen Menschen stets auf gleicher Höhe begegnet. Und sein dröhnendes Lachen, welches ausnahmslos ansteckend wirkt. Seine Arme, die einen an seine Brust ziehen und einfach nur festhalten, wenn Worte in diesem Moment unangebracht oder unnötig sind. Die tiefe Geborgenheit, die ich in seiner Nähe empfinde, schon seit unserer Kindheit.
Und dann ist da wieder Severin, die Erinnerung an seine Hände, die warm über meine Haut wandern, sein Blick unter langen, dichten Wimpern hervor, der immer wieder nach meinem sucht, sein Mund dicht an meinem Ohr, seine ruhige und angenehme Stimme, die mich ganz benommen macht.
Plötzlich wird mir ziemlich warm, und ich strample mich aus meiner Decke frei. Im Dunkeln taste ich nach meinem Handy, welches ich auf das Nachtkästchen neben mir gelegt habe, und beginne zu tippen. Als ich fertig bin, lege ich es noch nicht aus der Hand und starre an die Decke. Es ist zwei Uhr, mitten in der Nacht. Ich sollte nicht darauf warten, dass er mir antwortet. Jeder normale Mensch schläft um diese Zeit – und warum sollte ich überhaupt von ihm erwarten, dass er mir sofort eine Antwort schreibt? Es dauert keine fünf Minuten, da werde ich eines Besseren belehrt.
Hallo Vicky! Gerade habe ich an dich gedacht. :-) Du fehlst mir auch! Freu mich echt schon wahnsinnig auf dich! Severin
Ich seufze tief, drehe mich auf die Seite und umarme fest mein Kopfkissen.
Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr
Am nächsten Morgen stehe ich dick eingemummelt im Garten meiner Eltern und spiele mit Caruso mit einem Tennisball. Noch immer liegt dick Schnee, und die Zipfelmützen der Gartenzwerge ragen nur knapp unter der weißen Schicht hervor.
»Na, gut geschlafen?« Moritz steht plötzlich neben mir.
»Nicht so gut wie du«, antworte ich und werfe den gelben Ball durch die Luft. Mein Hund hetzt begeistert hinterher, und Schnee stiebt unter seinen Pfoten hoch.
»Warum? Habe ich wieder geschnarcht?«
»Also schnarchen ist noch ein sehr harmloser Ausdruck für diesen Geräuschpegel, dem ich letzte Nacht ausgesetzt war. Das klang eher nach der Brunftzeit einer sehr großen seltenen Hirschart oder so …«
Moritz grinst und nimmt Caruso den Ball ab, den er zurückgebracht hat, holt aus und schleudert ihn in den Garten. »Kann es sein, dass du nicht nur wegen meiner Schlafgeräusche wach gelegen hast?«, fragt er dann.
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht hättest du an meiner Stelle lieber jemand anderen neben dir gehabt!?«
»Wen denn?«
»Woher soll ich das wissen? Du sollst doch mir diese Frage beantworten!«
»Keine Ahnung …« Ich seufze schwer und lehne meinen Kopf gegen Moritz’ Schulter. »In meiner Gefühlswelt geht es drunter und drüber, und ich krieg einfach keine Ordnung mehr rein. So langsam frage ich mich, warum ich mir das Ganze überhaupt antue! Ich meine, was ist schon Liebe? Nicht mehr als eine chemische Reaktion im menschlichen Körper, eine Störung im Hormonhaushalt. Ist es das wert, dafür alles andere aufs Spiel zu setzen? Das Leben nicht mehr genießen zu können? Sich selbst alles so schwer zu machen?«
»Eine chemische Reaktion, hm?« Mein Bruder schmunzelt. »Und Sterne sind nicht mehr als glühende Gesteinsbrocken, ein Kuss nicht mehr als der Austausch von Körperflüssigkeiten, der ursprünglich dem Ernähren des Nachwuchses dienen sollte, und Sex nichts weiter als
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