Kantaki 01 - Diamant
reisten? Fühlten sie ihre Schiffe so wie ein Kantaki-Pilot sein Schiff fühlen kann?
Sie eilte durch dunkle Korridore, begleitet von zunehmenden Vibrationen, die das ganze große Raumschiff erfassten und die perspektivischen Verzerrungen verstärkten. Lidia achtete nicht auf das Schrumpfen und Anschwellen von Räumen, auf Gänge, die sich plötzlich wie Spiralen drehten. Inzwischen hatte sie gelernt, sich auf die gleiche Weise zu orientieren wie der blinde Floyd: mit dem »Auge des Geistes«, wie er es manchmal nannte, beziehungsweise mit dem Auge der Emotion. Lidia fühlte ihren Weg durch das dunkle Gewirr im Inneren des Kantaki-Schiffes.
Unterwegs begegnete sie mehreren aufgeregten Akuhaschi. »Ein Fehler in der Navigation!«, riefen sie. »Ein Fehler in der Navigation!« Dann eilten sie weiter durch die Schatten und Schemen, ausgerüstet mit Diagnosewerkzeugen, auf der Suche nach einem Fehler, den sie gar nicht beheben konnten.
Kurz darauf erreichte Lidia den Pilotendom, und dort sah sie ihre grässliche Vermutung bestätigt. Der alte Floyd saß in sich zusammengesunken im Sessel auf dem Podium, die Hände nicht mehr in den Sensormulden der Armlehnen.
Der Ernst der Lage war Lidia sofort klar, und sie erlebte ein seltsames Phänomen: Die Zeit in diesem Bereich abseits des normalen Zeitstroms schien sich für sie zu dehnen wie ein Gummiband. Um sie herum verlangsamte sich alles, während sie selbst in der ursprünglichen subjektiven Zeit verharrte, sich ganz normal bewegte. Während sie durch die Nichtzeit zum Podium schritt, beobachtete sie die Akuhaschi an den buckelartigen Konsolen, wo das Licht warnender Indikatoren erstarrte. Ihr Blick glitt an den gewölbten Wänden empor in den Transraum. Derzeit nahm sie die Fäden nur als vage, sich hin und her windende Linien im All wahr; sie musste mit den Augen des Schiffes verbunden sein, um sie klar zu erkennen und zu deuten. Aber sie fühlte: Mutter Krirs Schiff war nicht mehr mit einem Faden verbunden. Das große Raumschiff und die Transportblase mit den Passagierkapseln und Containern stürzte ungesteuert durch den Transraum und drohte, sich in der Hyperdimension zu verlieren. Die Situation erforderte das sofortige Eingreifen eines Piloten.
Als Lidia zum Sessel trat, kehrte das Gummiband der gedehnten Zeit zu seiner gewöhnlichen Form zurück.
Der alte, blinde Floyd, der doch so viel mehr gesehen hatte als andere Leute, lag tot im Sessel. Er war während des Transits gestorben, ruhig und friedlich, und dadurch hatte sich der Faden des Ziels vom Schiff gelöst. Lidia wusste, dass sie sich keine Zeit – nicht einmal gedehnte – für Trauer um Floyd nehmen durfte. Sie musste sofort handeln.
So behutsam wie möglich zog sie die Leiche aus dem Sessel; zwei Akuhaschi boten ihre Hilfe an, als sie schon fast fertig war. Dann nahm sie im Sessel Platz und legte die Hände in die Sensormulden.
Chaos wogte ihr entgegen, als sich ihre physische Existenz rasch erweiterte. Nichts war zu spüren von der Harmonie des Sakriums – das Schiff ähnelte einem kleinen Kind, das sich im Dunkeln verirrt hatte und nach seiner Mutter rief, dem Piloten. Lidia versuchte, ihre Gabe möglichst sanft zu entfalten und angesichts des heillosen Durcheinanders nicht in Panik zu geraten. Sie nahm die Datenströme der Sensoren und Datenservi entgegen, schuf daraus eine Art mentalen Sockel, der ihr Halt bot und zum Ausgangspunkt ihrer Orientierungsversuche wurde. Myriaden Fäden umgaben das durch den Transraum fliegende Kantaki-Schiff, Myriaden Schlangen, die zuckten, sich hin und her wanden, sprangen und krochen. Wo befand sich der Faden, den Floyd zu Beginn des Transits mit dem Schiff verbunden hatte, der Faden, der zum Zielplaneten Umkah führte?
Lidia tastete hinaus ins Chaos, während sie gleichzeitig spürte, wie die Akuhaschi die Bordsysteme des Schiffes und die strukturelle Integrität der Transportblase stabilisierten. Wo war der Faden, der richtige Faden? Welcher Weg führte nach Umkah? Floyd, armer Floyd … Ausgerechnet während des Transits. Lidia schob diese Gedanken beiseite, sanft und behutsam, um sich nicht selbst Gewalt anzutun. In ihrer erweiterten Wahrnehmung wurde Mutter Krirs Schiff erneut zu einem Kind, das auf Hilfe hoffte, darauf, dass ihm jemand den Weg zeigte. Die Terabyte an Daten, die Lidia von den Sensoren und Servi empfing, verwandelten sich in Stimmungen und Regungen, mit denen Lidias Gabe besser umzugehen verstand als mit nackten Fakten. Versuchsweise griff
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