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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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kaltherzigen Staat, der große Teile der Bevölkerung achselzuckend sich selbst überlässt.
    Wer ist arm, wer ist reich?
    Ende 2011 war fast jeder neunte Einwohner in Deutschland auf existenzsichernde Zahlungen des Staates angewiesen. Insgesamt bezogen 7,3 Millionen Menschen solche »Transferleistungen« vom Staat, den Steuerzahler hat das rund 42 Milliarden Euro gekostet. Mehr als 60 Prozent davon erhalten die knapp 5 Millionen Empfänger von Hartz IV , weitere knapp 25 Prozent entfallen auf 1,7 Millionen Sozialgeld-Zahlungen (das ist sozusagen Hartz IV für diejenigen, die nicht arbeitsfähig sind).
    Dabei bedeutet »Armut« in Deutschland glücklicherweise etwas anderes als in Afrika. Bei uns muss niemand verhungern. Ein Maßstab für ein menschenwürdiges Leben ist das in unseren Breitengraden aber zu Recht nicht mehr. Essen oder Sterben kann in einem reichen Industrieland kein Kriterium sein. Als »arm« gilt ein Alleinstehender bei uns ab einem Netto-Einkommen unter 780 Euro/Monat. »Reich« ist man – je nach Definition – ab etwa 3200 Euro/Monat. Erstaunlich – die wenigsten mit diesem Netto-Einkommen würden sich selbst als »reich« bezeichnen, sondern nur als gut verdienend. Grundsätzlich sind »arm« oder »reich« relative Begriffe. Sie werden immer in Bezug zu anderen Größen gesetzt, etwa zum Durchschnittseinkommen oder zu politisch gesetzten Vergleichszahlen. Wird also zum Beispiel der Sozialhilfe-Satz erhöht, der als Maßstab für das Existenzminimum gilt, dann sind statistisch automatisch mehr Menschen »arm«, die bis dahin noch über dieser politisch definierten Armutsgrenze lagen.
    Dabei scheint die »Durchlässigkeit« unserer Gesellschaft (wie groß sind die Chancen, nach oben zu kommen, unabhängig von der Herkunft) eher geringer zu werden. Die Sozialausgaben sind gestiegen, trotzdem ist die Frage, welchen sozialen Status man hat, heutzutage noch mehr eine private Frage (was können sich meine Eltern leisten) als vor zwanzig Jahren. Der Sozialstaat wälzt immer größere Geldsummen um, Sozialleistungen machen den größten Teil des staatlichen Budgets aus. Schaut man sich die Haushaltszahlen an, kann man nicht behaupten, der Sozialstaat sei abgebaut worden. Glücklicher oder »sozialer« ist die Gesellschaft aber anscheinend nicht geworden. Die naheliegende Vermutung ist: Das viele Geld wird nicht optimal eingesetzt. Darüber zu diskutieren, über wachsenden Wettbewerbsdruck, über die Folgen zerbrechender Familienstrukturen, über Chancengleichheit, über Integration, über Erwartungen an den Staat usw., ist wohl die größte sozialpolitische Herausforderung unserer Zeit. Politiker haben allerdings nur begrenzt Einfluss und Mittel, um darauf zu reagieren. Das traut sich nur keiner zu sagen, denn dann würde Politik hilflos wirken. Und das ist das Schlimmste, was Politiker tun können.

»Heute wird gestreikt« – wie mächtig sind die Gewerkschaften?
    Gewerkschaften setzen sich für die Interessen der Arbeitnehmer ein – höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen. Anders als bei Parteien sind die Ziele der Gewerkschaften begrenzt. Ihnen geht es nur um Arbeitsbedingungen in der jeweiligen Branche (zum Beispiel Bau, Erziehung und Wissenschaft, Polizei, Textil und Bekleidung). Umweltschutz, Bildungspolitik, Wehrpflicht – auch alles interessante Themen, aber unwichtig für die Gewerkschaft. Das hat klare Vorteile: Wer nicht noch alles Mögliche andere berücksichtigen muss, kann sein abgegrenztes Ziel viel besser und eindeutiger vertreten.
    In den meisten Berufen gibt es »Tarifverträge« – das heißt, Arbeitgeber und Gewerkschaften vereinbaren ein bestimmtes Gehalt (einen Tarif) für eine bestimmte Arbeit. Sie verhandeln das untereinander. Der Staat soll sich eigentlich raushalten. Mit etwas Verhandlungsgeschick oder Glück kann ein Mitarbeiter für sich selbst später sogar noch mehr rausholen.
    Weniger als im Tarifvertrag festgelegt, darf eine Firma nicht zahlen – vorausgesetzt, sie gehört zur »Tarifgemeinschaft«, wird also vom Arbeitgeberverband mitvertreten. Wer das nicht will, kann aus dem Verband austreten. Das hat aber Nachteile. Denn die Gewerkschaften sind für Arbeitgeber zwar lästig, weil sie immer so viel fordern. Aber wenn man sich mal geeinigt hat, dann gilt es für alle. Die Alternative wäre, dass jeder Arbeitgeber mit jedem einzelnen Mitarbeiter einen eigenen Vertrag aushandelt. Das kostet unheimlich Zeit und Mühe, und theoretisch kann jederzeit eine Gruppe

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