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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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Schlimmeres
    Spannend wird es im Bundestag vor allem bei Fragestunden oder Debatten über folgenschwere, umstrittene Gesetze oder wenn der Bundeshaushalt verabschiedet wird. Bei diesen sogenannten Generaldebatten kann man einander mal generell die Meinung sagen: eine schöne Gelegenheit, sich als guter Redner zu präsentieren, starke Argumente zu bringen, den Gegner zu verspotten und auch höhnisches Gelächter erschallen zu lassen. Natürlich wird dieser Schlagabtausch nicht nur für die Zuschauer auf den Tribünen im Reichstagsgebäude veranstaltet, sondern vor allem für das Fernsehen, das ständig dabei ist. So können von draußen Millionen zuschauen, wie im Bundestag gestritten wird. Kritiker des Parlamentarismus monierten in der Vergangenheit, dass die Reden im Parlament »zum Fenster hinaus« gehalten würden. In eine ähnliche Richtung geht heute die Kritik an den politischen Talkshows, die sich als »Nebenparlamente« gebären würden. Meiner Ansicht nach übersieht man dabei in beiden Fällen, dass es letztlich darauf ankommt, eine möglichst große Zahl von Bürgern für politische Debatten zu interessieren. Es nutzt nichts, wenn das Parlament unter sich bleibt oder Diskussionen nur im TV -Sender Phönix stattfinden, den nun mal vergleichsweise wenige Zuschauer einschalten.
    Ein breites Publikum interessiert sich für Parlamentsdebatten vor allem dann, wenn es um gesellschaftlich besonders strittige Themen geht. Manchmal gibt es dann tolle Redeschlachten, die als »parlamentarische Sternstunden« in die Geschichte eingehen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die historische 12-Stunden-Debatte vom 20. Juni 1991, als es darum ging, ob nach der Wiedervereinigung Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin umziehen sollen oder nicht. Oft sind die Debatten im Bundestag allerdings nur mäßig spannend oder vorhersehbares Wahlkampfgetöse – im Bundestag ist ja sozusagen immer Wahlkampf. Natürlich bietet der Bundestag für Politiker auch eine Bühne, um auf sich aufmerksam zu machen. Mit frechen, einfallsreichen und schlagfertigen Beiträgen kann man sich von der Masse abheben. Dazu eignen sich auch Zwischenrufe. Manche Politiker waren berüchtigt für ihre gezielten Flegeleien. Der SPD -Politiker Herbert Wehner zum Beispiel kassierte in 34 Jahren satte 58 Rüffel, etwa weil er den CDU -Mann Jürgen Todenhöfer als »Hodentöter« bezeichnete und Jürgen Wohlrabe als »Übelkrähe«. Der frühere CSU -Vorsitzende Theo Waigel nannte seinen FDP -Kollegen Graf Lambsdorff einen »adeligen Klugscheißer«. Und Joschka Fischer motzte gar den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen an: »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!« Dafür wurde er natürlich des Saales verwiesen.
    Im Bundestag kann es also durchaus munter und unterhaltsam zugehen. Manchmal aber auch sehr ernst – bei Fragen, die extrem schwierig sind, bei denen es um große moralische oder religiöse Themen geht, die sich nicht parteipolitisch beantworten lassen: Glaubens- oder Gewissensfragen wie Sterbehilfe oder Gentechnik. Bei solchen Debatten herrscht dann ein anderer Tonfall, die Abgeordneten gehen betont respektvoll miteinander um, und sie reden eher für sich selbst als für ihre Partei. Häufig wird dann der »Fraktionszwang« aufgehoben, das heißt, die Parteien stellen ihren Abgeordneten ausdrücklich frei, wie sie abstimmen wollen. Theoretisch haben sie diese Freiheit immer, die Verfassung verbietet ausdrücklich jeden Zwang; aber in Wahrheit herrscht natürlich die Erwartung, dass der einzelne Abgeordnete sich an die Linie seiner Partei hält, was als Fraktionsdisziplin oder -solidarität bezeichnet wird – das klingt netter als Fraktionszwang.
    Im Bundesrat, der allerdings seltener tagt und bei seinen Sitzungen mehr wegschaffen muss, herrscht generell eine deutlich ruhigere, sachlichere Atmosphäre. Zwischenrufe gelten hier als eher unschicklich. Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel. Legendär war die Bundesratssitzung am 22. März 2002, in der es hoch herging, Ministerpräsidenten der Union laut »Unverschämtheit« riefen, wütend mit der Hand auf ihre Tische schlugen und schließlich sogar unter Protest den Saal verließen. Als »inszeniertes Theater« ging diese Sitzung in die Geschichte ein. Inhaltlich ging es damals um das Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Schröder, das die Zustimmung des Bundesrates benötigte, um in Kraft treten zu können. In Wahrheit ging es aber um eine

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