Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
nimmt und ihnen ins Gewissen redet (»Du darfst unsere Mehrheit nicht gefährden!« Oder: »Wir müssen das jetzt so machen, sonst bricht uns die Koalition entzwei.«). Wenn es hart auf hart kommt, greift auch der Kanzler ein. Den Quotenkompromiss beispielsweise (»Wir nehmen das als Zukunftsprojekt ins Wahlprogramm, aber jetzt aktuell stimmt ihr bitte schön loyal mit uns ab«) hatte Kanzlerin Merkel höchstpersönlich ausbaldowert, um ihre AbweichlerInnen in den Griff zu bekommen.
Abweichler und Einpeitscher
Bei der Aufgabe, den Laden zusammenzuhalten, stehen dem Fraktionschef die Parlamentarischen Geschäftsführer zur Seite, die jede im Bundestag vertretene Partei hat. In Großbritannien werden sie »Whips« genannt, »Einpeitscher«. »Geschäftsführer« hingegen klingt eher nach einem Business-Job, was die Sache aber nicht ganz trifft. Management-Aufgaben hat ein Parlamentarischer Geschäftsführer zwar auch. Er bereitet Sitzungen vor, erstellt Tagesordnungen, kümmert sich darum, wer in welchen Ausschüssen sitzt usw. Aber im Wesentlichen hat er/sie eine politische Aufgabe: Eine Fraktion zu führen, ist harte Arbeit, oft auch harte Überzeugungsarbeit. Die Abgeordneten sind eben nicht nur Stimmvieh. Die Fraktionsführung hat aber durchaus Sanktionsmöglichkeiten gegenüber ihren Mitgliedern. Nicht nur, dass die Karriereaussichten schlechter werden, wenn man ständig aus der Reihe tanzt. Die Fraktionsführung hat zum Beispiel großen Einfluss darauf, welche Abgeordneten bei einer Debatte reden und wie lange. Lästigen Kollegen einfach einen Maulkorb verpassen, darf sie aber nicht. Der Geschäftsordnung nach bestimmt nämlich das Bundestagspräsidium über das Rederecht. Im Zuge der Euro-Krise hat es darüber einen handfesten Streit gegeben zwischen dem Bundestagspräsidenten und der CDU / CSU -Fraktion. Die Fraktion wollte Abweichler, die sich lautstark gegen die Euro-Rettungspakete aussprachen, lieber nicht zu Wort kommen lassen. Bundestagspräsident Norbert Lammert (pikanterweise auch von der CDU – was beweist, dass Politiker durchaus nicht immer nur in Parteikategorien denken) räumte zwei Abweichlern aber ausdrücklich ein Rederecht ein – und verwies die Fraktionen damit in ihre Schranken. In der Regel gibt es solche Streitigkeiten aber nicht, und die Fraktionen bestimmen selbst, wer für sie sprechen soll.
Generell sind die Fraktionen im Bundestag ausgesprochen selbstbewusst, gerade gegenüber ihren Führungsleuten in der Partei. Auch dann, wenn die Fraktion die Regierung stellt. Eine stolze Fraktion lässt sich nicht einfach so von »ihrem« Bundeskanzler vorschreiben, wie sie gefälligst abzustimmen hat. Die Regierenden müssen ein Ohr dafür haben, was ihre Leute im Parlament denken und wollen, sonst können sie eine peinliche Abstimmungsniederlage erleben. Auch werden ihnen in der Fraktion immer wieder strenge Fragen gestellt. Manchmal sind die eigenen Fraktionen schlimmer als die Opposition. Für Kanzler und Minister sind die Fraktionschefs auch deshalb sehr wichtige Gesprächspartner. Von ihnen hören sie, wie die Abgeordneten »ticken«. Und die Abgeordneten ticken oft anders, wenn sie am Wochenende in ihren Wahlkreisen fernab von Berlin waren und ihnen dort von lokalen Parteileuten und Bürgern die Hölle heiß gemacht wurde. Von CDU -Kanzler Konrad Adenauer stammt der Spruch: »Das Fegefeuer ist für mich, wenn ich in die Fraktion muss!«
Fraktionen sind also für Parlamentarier eine organisatorische Hilfe, und sie bieten eine Machtbastion. Zugleich wird die Regierung über ihre Fraktion »geerdet«.
Je nachdem, wie wichtig das Thema ist, um das es geht, sind im Bundestag verschiedene Mehrheiten nötig. Der Standard ist die »einfache Mehrheit« – also mindestens eine Stimme mehr als die Hälfte der anwesenden Abgeordneten. In manchen Fällen ist die Zustimmung von zwei Dritteln der Anwesenden erforderlich. Die höchste Hürde sind zwei Drittel aller Mitglieder des Bundestages (egal, ob sie nun anwesend sind oder nicht). Das ist zum Beispiel für Grundgesetzänderungen vorgeschrieben. Als »Kanzlermehrheit« bezeichnet man die »absolute Mehrheit« – also mindestens eine Stimme mehr als die Hälfte aller Bundestagsmitglieder (ob anwesend oder nicht). So viele Stimmen braucht ein Kanzler nämlich, um gewählt zu werden, und die meisten Gesetze lassen sich mit dieser Mehrheit ebenfalls durchsetzen. An dieser Stelle wird es ziemlich wichtig, dafür zu sorgen, dass die Abgeordneten bei
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