Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Abstimmungen überhaupt erscheinen. Es wurden schon Parlamentarier vom Krankenhaus im Rollstuhl ins Plenum gefahren. Das bedeutet aber nicht, dass knappe Mehrheiten immer von Nachteil sind. Für Fraktionschefs kann es durchaus nützlich sein, wenn die eigene Fraktion nur wenige Stimmen mehr hat als die Opposition. Das diszipliniert gewissermaßen von alleine – alle wissen, dass es auf jeden ankommt und man Abstimmungen nicht schwänzen darf.
Nun gibt es Bundestagsdebatten ja nicht täglich. Vorgeschrieben sind sogar nur 20 Sitzungswochen pro Jahr. Was machen die Abgeordneten also in der anderen Zeit? Sie sitzen vor allem viel. In Ausschüssen, in Arbeitskreisen, in Fraktionssitzungen, bei Mitarbeiterbesprechungen. Sie sitzen in ihren Büros, lesen, schreiben, telefonieren, beantworten Fragen von Bürgern, wühlen sich durch Aktenberge, twittern und googeln zu aktuellen Themen. Daneben treffen sie sich mit Lobbyisten, um deren Meinung zu hören, mit Journalisten, um deren Meinung zu beeinflussen, und nehmen in Berlin an zig Abendveranstaltungen teil. Die Wochenenden verbringen sie in ihren heimatlichen Wahlkreisbüros, halten Bürgersprechstunden ab und gehen zu Versammlungen von Parteimitgliedern, betreiben also »Basisarbeit«. Ist man prominent, hat man auch noch diverse Pressetermine, Talkshow hier, Interview da. Kurzum: Über Langeweile können Berufspolitiker selten klagen.
Der Bundespräsident – herzlich willkommen in Schloss Bellevue?
Der Kanzler hat zwar die meiste Macht – aber formell erste(r) Mann/Frau im Staate ist der Bundespräsident. Er ist schließlich das offizielle deutsche Staatsoberhaupt und steht damit ganz oben! In der Tagespolitik hat der Bundespräsident zwar wenig zu sagen, aber trotzdem hat er das letzte Wort. Er unterschreibt nämlich nicht nur die Ernennungsurkunden der Minister, sondern auch die Gesetze – oder auch nicht. Es ist zwar eher selten – und dann immer auch umstritten –, aber schon mehrfach vorgekommen, dass der Bundespräsident wegen verfassungsrechtlicher Bedenken seine Unterschrift unter ein Gesetz verweigert hat. Das tut er natürlich nicht aus eigenem Antrieb, etwa weil er selbst Jurist ist und ihm persönlich das Gesetz missfällt. Sondern weil zu befürchten ist, dass das Bundesverfassungsgericht es im Nachhinein abschmettert, und dann wäre auch der Bundespräsident düpiert, der es »sehenden Auges« unterschrieben hat. Er kann auch selbst anregen, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit einem umstrittenen Gesetz befasst. Dies hat zum Beis piel Bundespräsident Rau 2002 getan, nach dem im vorherigen Kapitel beschriebenen Eklat im Bundesrat zum Zuwanderungsgesetz. Er unterschrieb zwar, aber mit deutlichem Hinweis, was er von der Trickserei im Bundesrat hielt (das Bundesverfassungsgericht lehnte das Gesetz dann übrigens genau deswegen ab). Auch der aktuelle Bundespräsident Gauck hat schon eine Unterschrift verweigert beziehungsweise aufgeschoben, im Zusammenhang mit den Euro-Rettungspaketen, gegen die verfassungsrechtliche Bedenken bestanden. Insofern ist der Bundespräsident im Gesetzgebungsprozess eine wichtige Prüfinstanz, die man nicht einfach übergehen kann.
Außerdem kann der Bundespräsident in Krisenzeiten den Bundestag auflösen, wenn sich das Parlament auf keinen Kanzler einigt. Aber im Großen und Ganzen hat der Bundespräsident hauptsächlich repräsentative Funktionen: Er vertritt das deutsche Volk nach außen und innen über das parteipolitische Alltagshickhack hinaus. Gewählt wird der Bundespräsident für fünf Jahre, und er darf die Aufgabe nicht länger als zehn Jahre am Stück wahrnehmen. Im Grunde ist der »Buprä«, wie er im Berliner Politjargon abgekürzt wird, vergleichbar mit den Königen in parlamentarischen Monarchien. Aber er wird eben gewählt, und an dieser Stelle wird es interessant, auch psychologisch: Die Bundesversammlung, die den Präsidenten wählt, spiegelt die jeweiligen parteipolitischen Machtverhältnisse in Deutschland wider. Sie setzt sich ja zusammen aus den Mitgliedern des Bundestags und einer gleich großen Zahl von Delegierten aus den Länderparlamenten. Die Abstimmungen in der Bundesversammlung sind zwar unberechenbarer als in einzelnen Parlamenten. Aber wer im Bund regiert, hat oft auch eine Mehrheit in der Bundesversammlung. Dann kann die Bundesregierung gewissermaßen »bestimmen«, wer Bundespräsident wird, weil ihr Kandidat von vornherein der aussichtsreichste ist. Manchmal sind die
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