Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Mehrheitsverhältnisse allerdings auch umgekehrt. Wenn die Opposition viele Landtagswahlen gewonnen hat und in den Länderparlamenten so stark geworden ist, dass sie mehr Delegierte in die Bundesversammlung schicken kann. Das ist schon vorgekommen, aber dann herrschte bereits eine Wechselstimmung auf Bundesebene: Bei der nächsten Bundestagswahl folgte ein Regierungswechsel, und diejenigen, die ihren Bundespräsidentenkandidaten durchsetzen konnten, stellten dann auch die Bundesregierung. Unterm Strich gab es also meistens eine große (parteipolitische) Nähe zwischen Bundesregierung und Bundespräsident. Deshalb könnte man vielleicht erwarten, dass der Buprä brav Politik im Sinne der Regierungsparteien betreibt, die ihm ins Amt verholfen haben. Tut er aber nicht. Bisher haben sich die Bundespräsidenten von denjenigen, die ihre Wahl ermöglichten, recht schnell emanzipiert und Eigenständigkeit entwickelt. Das hohe Amt scheint eine besondere Ausstrahlung zu haben und seine Inhaber von parteipolitischen Brillen zu befreien. Umgekehrt ist es erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit alle Bundespräsidenten zu hohen Popularitätswerten in der Bevölkerung gelangten. Auch solche, die von Politprofis als ziemlich schwache Amtsinhaber betrachtet wurden – doch das Volk mochte seine Präsidenten, und die Präsidenten mochten es, sich von der Parteipolitik zu lösen und eine eigenständige Rolle zu spielen. Tatsächlich scheint es so, dass sich Menschen an ihr Amt anpassen und sich dafür auch Amtsvorgänger zum Vorbild nehmen.
Was man sich jahrzehntelang überhaupt nicht vorstellen konnte, war, dass ein Bundespräsident zurücktritt. Hallo? Warum denn das? Das war ähnlich unvorstellbar wie ein Papst-Rücktritt – aber man erlebt ja immer wieder Neues. Als Horst Köhler 2010 urplötzlich das Handtuch warf, war das ein echter Schock. Sein hastiger Abgang warf ein Schlaglicht darauf, dass ein Bundespräsident eben nicht nur der Winkeonkel in Schloss Bellevue ist, sondern eine hochpolitische Funktion hat. Köhler war für ein Interview scharf kritisiert worden, auch vorher hatte er keine gute Presse gehabt; mit den Mitarbeitern im Bundespräsidialamt gab es angeblich Probleme, und er war offenbar auch enttäuscht, dass er keine große Unterstützung von der CDU beziehungsweise von Kanzlerin Merkel bekam. Belegen kann man es nicht, aber vieles spricht dafür, dass Horst Köhler, zuvor Sparkassenpräsident und Direktor des Internationalen Währungfonds, mit den Niederungen der deutschen Politik, in denen er recht unvermittelt gelandet war, nicht gut zurechtkam. Als großer Rhetoriker fiel er auch nicht auf. Die Kritik, die über ihn hereinbrach, hatte ihn offenbar extrem gekränkt. Er sah »die Würde des Amtes verletzt«, sprach dabei aber wohl vor allem über sein persönliches Verletztsein.
Nach Köhlers Rücktritt war erstmals klar: Das Amt stellt Anforderungen, denen nicht jeder gewachsen ist. Im Prinzip wusste man das vorher schon. Bundespräsident Heinrich Lübke etwa, der in den 1960er Jahren die Bundesrepublik repräsentierte, galt als schwacher Präsident, dessen eigentümliche Reden heute geradezu Kultcharakter haben. Dass er bei einem Staatsbesuch auf dem afrikanischen Kontinent eine Rede tatsächlich mit den Worten »Meine Damen und Herren, lieber Neger« begann, ist aber wohl böswillige Erfindung, es gibt dafür jedenfalls keine Belege. Auch dass er der britischen Queen bei einer Parade in absurdem »Denglisch« zugeraunt haben soll »Equal goes it loose« (gemeint war: gleich geht es los) ist offenbar ein Fantasiezitat, das sich Journalisten ausgedacht haben. Solche vielfach kolportierten Gerüchte kommen aber nicht von ungefähr. Heinrich Lübke wäre heutzutage wohl nicht mehr vermittelbar gewesen für das höchste Amt im Staat. Aber ein Rücktritt? Das war bis 2010 undenkbar.
Bundespräsidenten können spektakulär scheitern
Und das Schlimmste war: Gleich nach Köhler kam wieder ein Präsident, der nach kurzer Zeit zurücktrat. Auch Christian Wulff scheiterte – vor allem an sich selbst. Seine Vergangenheit als Ministerpräsident in Hannover holte ihn ein, feindlich gesonnene Parteikollegen hatten die Presse angespitzt und auf Verfehlungen hingewiesen. Er wurde bei Halbwahrheiten und Unwahrheiten ertappt, etwa bei der Frage, wie er sein privates Wohnhaus finanziert habe; er umgab sich mit den falschen Leuten, erweckte den Anschein der Vorteilsnahme – was er selbst bei anderen scharf kritisiert hatte,
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