Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Gauck bisher noch keine »große Rede« gehalten, mit der er sich in die Geschichtsbücher eintragen könnte. Dass sein direkter Vorgänger Christian Wulff nach kurzer Zeit spektakulär scheiterte, hat viele Gründe. Einer könnte aber auch gewesen sein, dass er dem Bild des typischen Bundespräsidenten so gar nicht entsprach. Zu jung, zu nah an der Parteipolitik, zu sehr Karrierist statt »über den Dingen schwebend«. Er machte seine Sache im Amt eigentlich gar nicht schlecht; ihm wurden in seiner kurzen Amtszeit jedenfalls keine Fehler angelastet, und er prägte sogar einen Satz, der öffentlich hängen blieb (»Der Islam gehört zu Deutschland«). Viele Bürger fanden es zudem erfrischend, dass Schloss Bellevue zur Abwechslung mal keine Seniorenresidenz war, sondern im Schlosspark auch die kleinen Kinder des Präsidentenpaares spielten. Aber als Person begleiteten ihn von Beginn an Zweifel: »Ist der wirklich präsidiabel?«
Schon Wulffs Wahl gestaltete sich beklemmend schwierig. Er brauchte in der Bundesversammlung drei Wahlgänge, was ungewöhnlich ist. Der damals von der Opposition nominierte parteilose Joachim Gauck war ein starker Gegner, für den sich auch starke Medien wie die Bild -Zeitung ausgesprochen hatten. Gauck, der als »Kandidat des Volkes« bezeichnet wurde, sah von Anfang an aus wie ein Präsident, Wulff hingegen wirkte ein bisschen wie Angela Merkels Neffe. Man sollte solche Eindrücke nicht überbewerten – aber ich persönlich glaube, dass Psychologie in der Politik eine große Rolle spielt. Und für die Rolle des Bundespräsidenten ist nun mal eine weise »Silberlocke« vorgesehen, ob männlich oder weiblich – aber dem Vorbild Richard von Weizsäckers sollte man offenbar doch nahekommen, um dieser Vorstellung gerecht zu werden. Parteipolitiker werden das etwas anders sehen. Präsident Weizsäcker war für Kanzler Helmut Kohl eine Nervensäge, einer, der sich auf seine Kosten profilierte, indem er den Anti-Parteien-Präsidenten gab und dem Kanzler auch gern mal die Show stahl.
Mit Bundespräsident a. D. Richard von Weizsäcker habe ich für mein Jugendbuch »Kanzler lieben Gummistiefel« ein Interview über das Amt des Bundespräsidenten geführt. Und ich finde, dass seine Antworten auch für ein Erwachsenenbuch taugen, zumindest nichts von ihrer Aussagekraft eingebüßt haben. Übrigens: Bundespräsidenten behalten ihren Titel auch nach ihrer Amtszeit. Deshalb gebietet es die Höflichkeit, einen Ex-Bundespräsidenten mit »Herr Bundespräsident« anzusprechen, auch wenn er schon lange nicht mehr im Amt ist.
Herr Bundespräsident, wofür brauchen wir eigentlich überhaupt einen Bundespräsidenten?
Wir leben in unserer freiheitlichen Demokratie ja notwendigerweise in einem repräsentativen System. Das heißt, wir können uns nicht einfach wie die alten Germanen auf der Thing-Wiese versammeln, um ein Stammesoberhaupt direkt zu wählen. Bei uns laufen Abstimmungen in Parlamenten. Und dafür sind Parteien notwendig. Die Parteien kämpfen dort um ihre Ziele und um die Macht, diese Ziele umsetzen zu können. Dabei geraten sie aber immer wieder in Versuchung, mehr um die Macht und weniger um die Ziele zu kämpfen. So unentbehrlich Parteien sind, so notwendig sind zugleich parteiunabhängige Instanzen. Eines ist das Bundesverfassungsgericht und das andere ist das Staatsoberhaupt.
Kann der Bundespräsident denn tatsächlich unabhängig sein von Parteien?
Wenn er sein Amt nicht unabhängig von Parteien wahrnimmt, dann taugt er für das Amt nicht! Gänzlich parteilose Präsidenten hat es bisher zwar noch nicht gegeben, könnte es aber auch geben. Warum nicht? (Anm.: Mittlerweile wurde mit Joachim Gauck erstmals ein parteiloser Bundespräsident – mit großer Mehrheit – gewählt; Weizsäcker hat im Interview Weitsicht bewiesen!)
Also gibt man sein Parteibuch quasi ab in dem Moment, in dem man Bundespräsident wird?
Gewissermaßen. Mir ist die Unabhängigkeit der Amtsführung nie schwergefallen, und nach zehn Jahren im Amt hatte ich auch nicht den geringsten Wunsch, die Parteiunabhängigkeit wie einen Bademantel wieder abzulegen und mich wieder ins Parteigetümmel hineinzustürzen. Ich bin lieber unabhängig geblieben, und so ist es bis zum heutigen Tag.
Das Volk mag es ja auch, wenn sich Politiker etwas abseits des Parteisystems stellen. Parteien haben inzwischen ja einen eher schlechten Ruf …
Ach, Parteien und Politiker sind nicht besser als ihre Wähler. Wenn Menschen egoistisch und
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